© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 18/22 / 29. April 2022

Zur Krise von Bundeswehr und Landesverteidigung
Motivation ist das erste
Harald Dill

Anläßlich eines Zahlen- und Technologievergleichs von Waffensystemen auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs äußerte sich Ferdinand O. Miksche (1905–1992), Offizier und Militärschriftsteller, in einer Diskussionsrunde des „Internationalen Frühschoppens“ mit Werner Höfer wie folgt: „Meine Herren, Waffen werden von Menschen bedient.“ Man mag dies als einen Allgemeinplatz abtun. Betrachtet man jedoch die Medienlandschaft und die Politik in Deutschland, dann kommt man unweigerlich zu dem Schluß, daß dieser Ausspruch etwas in Vergessenheit geraten zu sein scheint. Finanzminister Christian Lindner (FDP) will mit 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr die schlagkräftigste Armee in Europa schaffen. Dieses Wunschdenken kann doch nur seiner militärischen Vita (vom Wehrdienstverweigerer zum Major d. Res.) oder einem Mangel an militärischen Sachverständigen in seinem Umfeld geschuldet sein.

Nach dem Schaulaufen der Virologen in der Pandemie schlägt nun in Putins Angriffskrieg augenscheinlich die Stunde der Generale. In den Medien tauchen mehr und mehr plötzlich ehemalige Generale auf, nachdem in der Zeit der Not der aktive Generalleutnant Alfons Mais in aller Öffentlichkeit verkündete: „Die Bundeswehr steht mehr oder weniger blank da.“ Seine Kollegen erklären nun das militärische Vorgehen in der Ukraine, erläutern die mögliche Weiterführung des Krieges, und man erfährt auch, daß das, was wir heute in all seiner Brutalität zu sehen bekommen, in Planspielen auf höchster Nato-Ebene bereits modellartig vorweggenommen wurde. Man hatte jahrzehntelang im Sandkasten Abwehrschlachten geschlagen und gleichzeitig nicht nur das zur Abwehr notwendige Material verlottern lassen, sondern auch das Abwehrpotential durch eine absurde Reduktionsspirale bei den Waffensystemen und dem Personal geschwächt sowie darüber hinaus das beste dreigliedrige Verteidigungssystem auf deutschem Boden zerstört: Wehrpflichtige, Zeit- und Berufssoldaten. Die Entscheidungen wurden im zivilen Bereich getroffen, die Berater aber trugen Uniformen.

Die gesellschaftlichen Veränderungen nach dem Zusammenbruch des Warschauer Paktes führten dazu, daß die Bundeswehr sich gewissermaßen in einem Mehrfrontenkrieg wiederfand. Politiker, bestimmte Medienbereiche und gesellschaftliche Gruppen entwickelten eine Art Ersatzreligion, geprägt vom Glauben an den ewigen Bestand der mitteleuropäischen Wohlfühloase. Leider machten diese negativen Veränderungen auch vor den Streitkräften nicht halt und führten zu einer inneren Erosion, die ähnlich wie bei der Verwitterung der Gesteine unterschiedlich tief in die Truppe hinein vordrang.

Das gegenwärtige Auftreten hochrangiger ehemaliger Bundeswehrangehöriger in den Medien und ihre Stellungnahmen zum Abwehrkampf in der Ukraine vor dem Hintergrund einer nicht mehr einsatzfähigen Streitkraft erzeugen einen schalen Beigeschmack. Eigentlich wären Zurückhaltung und Selbstkritik geboten, um Schadensbegrenzung zu betreiben. Um aus dieser militärischen Malaise herauszukommen, sind keine Lobbyisten (in eigener Sache) und Unternehmensberater gefragt. Zu Wort kommen müßten diejenigen Soldaten, die in den einstweiligen Ruhestand versetzt wurden, denen man das Ausscheiden aus dem aktiven Dienst nahelegte oder die ihren Dienst fürs Vaterland quittierten, weil sie erkannten, wie die technische und personelle Lage wirklich ist und es auch noch zu sagen wagten. Diejenigen also, die damit ausdrückten, daß sie den schönen Reden der Verteidigungsminister keinen Glauben mehr schenken konnten, waren mutig und wurden prompt abgestraft.

Wo aber waren die hochrangigen uniformierten Fachleute für das Militärwesen, die jetzt so prominent in der Öffentlichkeit auftreten, in den letzten mehr als zwanzig Jahren? Wie konnte es sein, daß bei einem Ausbildungs- und Unterstützungseinsatz wie in Afghanistan, bei dem 59 Soldaten ihre Leben verloren, keiner aus der Gruppe der Generalstabsoffiziere bemerkte, daß „man ein totes Pferd reitet“, keiner einschätzen konnte, daß die auszubildende Armee innerhalb weniger Tage von der Bildfläche verschwinden würde samt all der modernen Waffen? Wo waren all die Offiziere, die an den Bundeswehr-Universitäten sozialpolitische und pädagogische Fachgebiete gewählt hatten?

Jeder Auslandseinsatz ist ein Praktikum in angewandter Ethnologie. Eine Analyse der Geschichte Afghanistans durch studierende Stabsoffiziere im Fach Geschichte gekoppelt mit einer umfassenden Terrainanalyse von Geowissenschaftlern (Fachrichtung Geomorphometrie) hätte jeden einigermaßen mit der militärischen Materie Vertrauten zu dem Schluß kommen lassen, daß der militärische Einsatz in Afghanistan zu einem Fehlschlag führen mußte. Man verließ sich auf die absurden Aussagen eines Verteidigungsministers („Deutschland wird am Hindukusch verteidigt“) aus Mangel an Wissen und Erfahrung oder schlichtem Opportunismus. Hatte man vor allem den nächsten Stern im Fadenkreuz und nicht den Gegner? Offensichtlich wagte niemand, eine wahre Lagebeurteilung gegenüber dem/der Bundesverteidigungsminister/in oder der Kanzlerin abzugeben. Kein General, sondern ein Hauptfeldwebel brachte es auf den Punkt. Er verlor beide Beine und mußte sich ins Leben zurückkämpfen. Was er zu seinem Einsatz zu sagen hatte, lautete knapp und deutlich: „Wir hätten in den Jahren die Taliban viel stärker angehen müssen.“ Chapeau!

Heute wird Deutschland nicht am Dnjepr verteidigt, aber unsere Moral- und Wertvorstellungen werden gegenwärtig dort zu Grabe getragen. Die Würde des Menschen endet nicht an Grenzen, es sei denn man betrachtet diese als eine Phrase, die man modulartig in politische Reden einbaut und die man als eine Monstranz vor sich herträgt und zur moralischen Überhöhung mißbraucht.

Was man von einem hochrangigen militärischen Führer hier und heute erwarten kann, sind Lösungen in problematischer Situation, besonders dann, wenn man maßgeblich mit dazu beigetragen hat, daß es so weit kommen konnte. Es gibt kein Wegducken mehr hinter dem Begriff der „Parlamentsarmee“. Nicht Lobbyismus in eigener Sache, sondern Lobbyismus für die Wehrhaftigkeit und Sicherheit unseres Volkes sind vonnöten.

Ein guter militärischer Führer und ein guter Wissenschaftler haben zwei Dinge gemein: Sie müssen kreativ sein und die Bereitschaft erkennen lassen, die ausgetretenen Pfade des Mainstreams zu verlassen. Hannibal hat Rom nicht frontal angegriffen, sondern über die Alpen hinweg. Diese Kreativität gilt auch heute noch, ob man seinen Auftrag nun am Joystick einer Drohnensteuerung in den USA oder als Zugführer beim Hochgebirgszug einer Gebirgsjägereinheit erfüllt.

In Anbetracht der katastrophalen Verhältnisse auf dem Schlachtfeld muß man von den militärischen Fachleuten unterhalb der nuklearen Schwelle kreative Lösungen erwarten können. Es gibt Waffensysteme, deren Einsatz eine Überschreitung einer roten Linie bedeutet. The Show of Force is over. Das Kampfflugzeug F-35 mag sicherlich einen Beitrag zur Landes- und Bündnisverteidigung leisten, gebraucht werden aber andere Ansätze und Denkweisen. Ein „highly sophisticated“ Waffensystem kann man sehr rasch einführen, wie man sieht. Die Erhöhung der Verteidigungsbereitschaft und die Motivation, seine Werte nicht nur hochzuhalten, sondern auch zu verteidigen, werden in einer Generation wohl schwerlich zu bewerkstelligen sein. Ein wirkliches Umdenken läßt sich bisher weder in den Medien noch in der Politik erkennen. Sollten die Waffen bald wieder schweigen, was zu hoffen ist, dann werden wieder diejenigen das große Wort führen, die alles schönreden, und sie werden auch wieder Karriere machen.

Waffen werden von Menschen bedient, und Menschen müssen dem Vaterland dienen, wenn die Demokratie und die Freiheit nicht nur Worthülsen sein sollen. Der Wehrdienst sollte für die hier geborenen männlichen (und weiblichen) Staatsbürger und auch für die wehrfähigen Migranten und Neubürger gelten. Soldaten gibt es nun einmal nicht im Discounter um die Ecke, man muß sie heranbilden. Das ist ohne Zweifel schwieriger als die Aussetzung der Wehrpflicht, aber sinnvoller als alle symbolischen Einsätze mit wohlklingenden Abkürzungen.

Die täglichen Lageberichte aus der Ukraine zeigen uns, was es in der Not bedeutet, wenn die Einsatzkräfte und das Volk eine Einheit bilden. Frauen, Kindern und Männern im nichtwehrfähigen Alter wird, soweit es geht, die Flucht ermöglicht, während die Männer und zahlreiche Frauen ihre Heimat mit der Waffe in der Hand verteidigen.

Deutschland muß die Verteidigung seines Territoriums, seiner Menschen und Werte wieder vom Kopf auf die Füße stellen. Geld allein löst das Problem nicht.






Prof. Dr. rer. nat. habil. Harald G. Dill, Jahrgang 1949, ist Geowissenschaftler mit den Schwerpunkten Rohstoffgeologie und Terrainanalyse. Er war bei der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe tätig und lehrte und forschte auf allen Kontinenten. Dill hält bis heute Vorlesungen an der Universität Hannover. Von 1969 bis 2006 war er bei der Bundeswehr (Artillerie, MilGeoDienst) und schied auf eigenen Wunsch als Oberst d. Res. aus.

Foto: Rekruten auf der Hindernisbahn der Julius-Leber-Kaserne Berlin 2021: Wir müssen für die Wehrhaftigkeit eintreten und die Freiheit verteidigen wollen