© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 18/22 / 29. April 2022

Kriegsverbrechen mit Ansage
Der „Bromberger Blutsonntag“ 1939 fand bis heute keine angemessene Aufarbeitung
Stefan Scheil

Im Fall des Kriegsausbruchs haben wir uns für jeden einzelnen Deutschen mit Namen etwas Besonderes ausgedacht.“ Diese finstere Ankündigung sprach Ministerialdirektor Wacław Żyborski aus dem polnischen Innenministerium Anfang August 1939 gegenüber einem Vertreter der deutschen Minderheit aus. Das konnte zu diesem Zeitpunkt kaum noch überraschen. Mehrfach waren deutsche Organisationen seit Mitte Mai 1939 aufgefordert worden, Namenslisten mit Angaben zu verantwortlichen Personen vorzulegen. Die polnischen Stellen witterten in der aufziehenden polnisch-deutschen Kriegskrise die Chance zur finalen Abrechnung mit der als störend empfundenen Existenz der deutschen Volksgruppe in Polen.

Ein Rundschreiben des Warschauer Innenministeriums stellte gegenüber den nachgeordneten Behörden im Juni 1939 noch einmal klar, um was es ging. Das Generalziel der aktuellen Politik sei die Liquidierung der deutschen Minderheit. Diese müsse energisch verfolgt und zeitnah erreicht werden, wobei es keinen Zusammenhang mit den Verhältnissen geben würde, unter denen ethnische Polen zeitgleich in Deutschland leben würden. Die Polen in Deutschland sollten sich ruhig verhalten, wie sie ihrerseits von deutschen Behörden behandelt würden, sei vergleichsweise unwichtig.

Aus diesen Überlegungen machten polnische Offizielle auch gegenüber vereinzelten ausländischen Beobachtern kaum ein Geheimnis. Die Kriegslust und der Antigermanismus der polnischen Bauern beruhe teils auf rassischen und teils auf wirtschaftlichen Gründen, teilte das Warschauer Wirtschaftsministerium zwei durchreisenden britischen Diplomaten mit. Es gebe Bevölkerungszuwachs und dadurch Appetit auf deutsches Bauernland. Der Repräsentant des Ministeriums Wszelaki sagte den Herren Jebb und Strang tatsächlich, daß er bei Kriegsausbruch ein schreckliches Massaker unter den deutsch-polnischen Bauern befürchte und daß man dies schwerlich werde verhindern können. 

Die Voraussetzungen für eine umfassende Hexenjagd auf alles, was an deutschem Leben in der Republik Polen zu greifen war, lagen im Jahr 1939 also vor. Und so hat sie denn auch stattgefunden, aus geschürtem Volkszorn wie aus regierungsamtlichem Kalkül.

Als wäre dies alles an sich nicht schon tragisch genug, fanden diese Verbrechen dennoch auch keine angemessene Aufarbeitung, weder zwischen 1939 und 1945 noch danach. Zwar konstituierte sich schon im Oktober 1939 in Posen eine „Gräberzentrale“, die unter der Leitung des Volkskundlers Kurt Lück daran arbeitete, die Ereignisse zu erfassen und zu dokumentieren. Dabei ging sie mit großer Umsicht vor, denn allein die Suche nach Gräbern, die Exhumierung und die Identifikation der Toten war schon kurz nach der Tat recht schwierig. Mögliche Hinweise wie Personalausweise, Schmuck oder ähnliches waren den Opfern systematisch abgenommen worden. 

Die akribische Arbeit der Posener Gräberzentrale fand wenig Interesse

Auf der anderen Seite gab es jedoch noch zahlreiche Augenzeugen über die kurz nach Kriegsbeginn gestarteten Todesmärsche. Anhand der längst angelegten Listen hatten polnische Stellen diejenigen Deutschen erfaßt, die sofort verschwinden sollten, und trieben sie in Tagesmärschen von mehreren Dutzend Kilometern Richtung Osten. In der Regel waren sie dennoch nicht schnell genug, so daß die deutschen Streitkräfte Tausende der Entführten befreien konnten. Das geschah in großer Öffentlichkeit und sprach sich herum. In der Armee und der Bevölkerung herrsche angesichts der polnischen Verbrechen, von denen die heimkehrenden Truppen berichtet hätten, jetzt völliges Einverständnis mit dem deutschen Vorgehen und dem Krieg, notierten die sozialdemokratischen Untergrundberichte im Oktober 1939. Das Interesse des nationalsozialistischen Deutschland an diesen Vorgängen ließ jedoch vergleichsweise recht schnell nach. Hatte die Gräberzentrale über fünftausend Ermordete nachweisen können, so gab es aus dem Berliner Propagandaministerium im Frühjahr 1940 die Anweisung, künftig von mehr als fünfzigtausend Toten zu sprechen. Da spielten weitere Einzelfälle denn bald kaum noch eine Rolle, da sie zu dieser Höhe im Endeffekt nicht genug beitragen würden. 

Obwohl die Tätigkeit der Gräberstelle trotzdem eine Zeitlang weitergeführt wurde, mußte sie schließlich vor achtzig Jahren, Ende April 1942 ihre Tätigkeit einstellen. Das von ihr zusammengetragene Material liegt allerdings umfangreich bereit, um den Zusammenhang der polnischen Kriegsvorbereitungen von 1939 mit dem geplanten Völkermord an den Volksdeutschen in der Republik Polen wieder detailliert aufgreifen zu können.

Für einen solchen Fall wäre es natürlich erforderlich, einen angemessenen Perspektivwechsel mit Blick auf den Stand der deutsch-polnischen Beziehungen von 1939 vorzunehmen. Nicht nur aus den Eingangs zitierten Beobachtungen, sondern aus zahlreichen anderen Quellen geht hervor, wie sehr die polnische Politik mit den Deutschen auf ihrem damaligen Staatsgebiet grundsätzlich abrechnen wollte und in welchem Umfang dies perspektivisch auch für Teile Deutschlands wie Schlesien, Pommern oder Ostpreußen galt. Hier ging es nicht um eine Reaktion auf deutsche Aktivitäten oder Angriffsvorbereitungen.

Was der polnischen Öffentlichkeit nach 1945 als „Wiedergewonnene Gebiete“ harmlos präsentiert wurde und wird, warf bereits seinen Schatten voraus: Die Oder-Neiße-Linie. Auch in der zuvor tschechoslowakischen Stadt Oderberg, die Polen Ende 1938 unter seine Kontrolle brachte, wurde augenblicklich mit der Enteignung und Ausweisung der in der Stadt ansässigen Deutschen begonnen. Dies geschah ganz unabhängig von der damals noch mühsam gewahrten Fassade eines polnisch-deutschen Ausgleichs, dem man in Berlin zu dieser Zeit weiter anhing. Und als Begründung mußte ebenfalls die städtische Lage östlich der Oder herhalten.

Insofern kommt eine angemessene Darstellung der Geschichte der antideutschen Ausschreitungen in Polen auch nicht darum herum, die Rolle anzusprechen, die diese Ausschreitungen im Rahmen der europäischen Geschichte hatten. Sie gehörten zu dem Auftakt eines Krieges gegen das gesamte deutsche Siedlungsgebiet, das die Kriegsgegner im Ergebnis deutlich verkleinert wissen wollten. Auch wenn es darüber keine richtig offizielle Einigkeit gab, galt doch das Streben der Deutschen nach politischer Einheit in ihren damaligen ethnischen Grenzen als Grundsatzproblem, das am Ende nur durch „ethnische Säuberung“ zu lösen schien. Es hatten sich nicht nur die polnischen Stellen für „jeden Deutschen etwas Besonderes ausgedacht“. Die vielgeforderten „europäischen Perspektiven“ auf das Vertreibungsgeschehen nach 1945, hier sind sie mit Händen zu greifen.

Foto: Opfer des „Bromberger Blutsonntags“ Anfang September 1939: NS-Propaganda und polnische Leugnung und Abwieglung