© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 18/22 / 29. April 2022

Auch im Frieden im Krieg
Korpsgeist, Elitebewußtsein und Traditionsverständnis: Brauchen Spezialkräfte der Bundeswehr eigene Vorbilder?
Paul Leonhard

Etwas Tradition aus „finsteren Zeiten“ hat doch überlebt: die deutsche Angewohnheit, gepanzerte Kampffahrzeuge nach gefürchteten Raubtieren zu benennen. Ist der Exportschlager „Leopard“ nicht insofern ein direkter Nachfolger der aus den Waffenschmieden des NS-Reiches stammenden „Panther“ oder „Tiger“? Vom VW-Kübel ganz zu schweigen. Es steckt noch immer mehr Wehrmacht in der Bundeswehr, als den Strategen im Verteidigungsministerium – Traditionserlaß hin oder her – lieb ist.

Offenbar sei die alte Diskussion um die Traditionswürdigkeit der Wehrmacht trotz eindeutiger Vorgaben aus dem Ministerium noch immer nicht zu Ende. Historiker Sönke Neitzel, Autor des Buches „Deutsche Krieger“ (Berlin 2020), kann das nachvollziehen. Es gebe offensichtlich eine emotionale Bindung vor allem der Fallschirmjäger der Bundeswehr an die der Wehrmacht. Er habe auch „viele sehr hohe Dienstgrade“ erlebt, deren persönliche Tradition noch immer 1935 beginnt. Das sei kein alleiniges Problem der Fallschirmjäger, so Neitzel, sondern der Frage geschuldet: Wie verhalte ich mich im Krieg mit einem Gegner, für den nicht die Wertenormen des Grundgesetzes gelten. 

Seit 1982 gilt die Wehrmacht für die Bundeswehr als nicht traditionsfähig. Das hat der 2018 erlassene Traditionserlaß noch einmal verschärft. Überlebt haben immerhin Eisernes Kreuz, Nationalhymne, der Große Zapfenstreich und das Lied vom guten Kameraden. Auch sieht er Ausnahmen vor: Widerstandskämpfer des 20. Juli 1944, Angehörige der Gründer- und Aufbaugeneration der Bundesrepublik Deutschland oder Personen, die sich um Recht und Freiheit verdient gemacht haben – sie haben Relevanz für die Traditionspflege der Bundeswehr.

Niemand kehrte aus dem Krieg mit weißer Weste zurück

Ist Ulrich de Maizière, einer der Gründerväter der Bundeswehr, eine solche? Nach dem früheren Generalinspekteur des Heeres wäre beinahe die Emmich-Cambrai-Kaserne in Hannover benannt wurden. Allerdings wurde zuvor die Beteiligung seiner Panzerdivision an einer Militäraktion gegen Partisanen im Vorfeld der Schlacht am Kursker Bogen problematisiert. Letztlich wird die Kaserne 2018 nach einem 2011 in Afghanistan durch eine Sprengfalle getöteten Hauptfeldwebel benannt, angeblich auf Wunsch der Soldaten vor Ort. Bereits 2018 wird die nach dem Luftwaffenpiloten Helmut Lent benannte Kaserne in Rotenburg umbenannt. Neuer Namensgeber ist der Freikorpsführer aus den Befreiungskriegen gegen Napoleon, Johann Christian von Düring (der Jüngere) (1792–1862), dessen Mut, Ehrlichkeit, Zuverlässigkeit und Fleiß als vorbildlich gelten, der aber auch für Heimatliebe und Loyalität stehe, so der damalige Parlamentarische Staatssekretär im Verteidigungsministerium, Peter Tauber, beim Festakt.

Einen anderen Weg geht dagegen Österreich. Um die Erinnerung an bedeutsame historische Persönlichkeiten zu wahren, tragen inzwischen acht Liegenschaften und Truppenkörper Traditionsnamen. So wird die Stiftskaserne nach dem legendären Armeekommandanten der 1970er Jahre, Emil Spannocchi, benannt, um dessen Leistungen für die Landesverteidigung (Spannocchi-Doktrin) zu würdigen. Und die Rossauerkaserne, Sitz des Verteidigungsministeriums, trägt den Ehrennamen „Bernardis-Schmid“, womit an die beiden österreichischen Angehörigen der deutschen Wehrmacht, Oberstleutnant Robert Bernardis und Unteroffizier Anton Schmid, erinnert wird. Bernardis wurde als Beteiligter am Stauffenberg-Attentat auf Hitler Beteiligter 1944 hingerichtet, Schmid 1942 wegen der Rettung zahlreicher Juden in Wilna. Beide Soldaten hätten Tapferkeit und Zivilcourage bewiesen, seien bereit gewesen, dem eigenen Gewissen zu folgen und die Konsequenzen dafür zu tragen und seien dafür Vorbilder für österreichische Soldaten. Auch der deutsche Traditionserlaß sieht explizit die Möglichkeit vor, Kasernen oder Einheiten nach den Männern des militärischen Widerstandes gegen Hitler zu benennen. Neitzel schlägt beispielsweise den ebenfalls am Attentat auf Hitler beteiligten Frontoffizier und Ritterkreuzträger Axel von dem Bussche vor oder Generalleutnant und Pour-le-Mérite-Träger Theodor Groppe, den gegen Himmler aufbegehrenden „schwarzen General“. Letztlich schüttelt Neitzel aber den Kopf: „Ich glaube nicht, daß wir diesen Weg gehen.“ Niemand sei aus diesem Krieg mit weißer Weste zurückgekehrt. Er sei sich sicher, daß spätestens in 15 oder 20 Jahren auch an die Gründergeneration der Bundeswehr die Axt gelegt wird: „Der Begriff Verbrechen wird sich verändern und Tradition weiter wandeln.“

In einem aktuellen Dossier „Die Spezialkräfte der Bundeswehr“ setzt sich der Historiker auf der Internetseite bundeswehr.de mit deren Geschichte, Tradition und damit auseinander, warum es dem Verteidigungsministerium so schwer fällt, den Soldaten eine eigene Tradition anzubieten. „Es gibt auch eine Bringschuld der politischen und militärischen Führung: Sie müssen offen zu den Aufträgen und dem Charakter eines Verbandes wie dem Kommando Spezialkräfte stehen, der seit seiner Aufstellung mehr mit Töten und Sterben zu tun hatte, als jeder andere in der Bundeswehr.“ Das in den Köpfen der Politiker fest verankerte Leitbild des „Staatsbürgers in Uniform“, des politisch denkenden Soldaten, der sein Soldatsein bis zur deutschen Wiedervereinigung in Kasernen verbrachte, paßt nicht so recht zu einer Freiwilligentruppe, die seit der Aussetzung der allgemeinen Wehrpflicht westliche Werte längst jenseits der Nato-Grenzen verteidigt, im Kosovo, Afghanistan und Mali beispielsweise.

Der im Erlaß vorgesehene „zentrale Bezugspunkt“ der Tradition der Bundeswehr als „ihre eigene, lange Geschichte“ und die Leistungen ihrer Soldaten gestaltet sich auch deswegen als schwierig, weil diese Soldaten zwar bisher Gefechte meisterten, aber keine Schlachten, wie Neitzel zu bedenken gibt. Aus dem Werbeslogan „eine starke Truppe“ entsteht kein traditionsbildender Mythos. Und allein das Karfreitagsgefecht in der afghanischen Provinz Kundus 2010 könne diesen nicht schaffen.

Einsatzsoldaten brauchen Vorbilder, die gekämpft haben

Einfacher haben es die Gebirgsjäger. Das von den Österreichern ihren deutschen Kameraden verliehene Edelweiß hat den gesellschaftlichen Wandel überstanden. Verliehen nach dem ersten Bergmarsch, ist es eines der wenigen in der Bundeswehr verbliebenen Abzeichen der deutschen Militärgeschichte. Und dank der frühen Geburt, die Gebirgsjäger werden im Herbst 1914 aufgestellt, als klar wird, daß es einer spezialisierten Truppe bedarf, um in tief verschneiten Tälern und gebirgigen Höhen erfolgreich kämpfen zu können, ist auch die Traditionspflege der Gebirgsjäger der Bundeswehr unverkrampfter: Man klammert einfach die NS-Zeit aus. Kasernen, die nach Gebirgsjägern aus dem Zweiten Weltkrieg benannt wurden, die Füssener Generaloberst-Dietl-Kaserne oder die General-Kübler-Kaserne in Mittenwald, wurde wegen der NS-Nähe des „Helden von Narvik“ Eduard Dietl und des wegen seiner Verstrickung in Verbrechen im Partisanenkampf in Jugoslawien belasteten „Vaters der Gebirgsjäger“ Wilhelm Kübler bereits in den neunziger Jahren umbenannt.

Und so kann Brigadegeneral Jared Sembritzki, Kommandeur der Gebirgsjägerbrigade 23 „Bayern“, sogar Erwin Rommel zitieren, wenn auch nicht als Wüstenfuchs, sondern als Teilnehmer der 12. Isonzoschlacht im Ersten Weltkrieg, als er den neuen Traditionserlaß aus Berlin seinen Soldaten schmackhaft zu machen versucht. Denn auch hier gilt: Die Leistungen der Gebirgsjäger im Zweiten Weltkrieg sind aus der Tradition auszuklammern, da die Truppe – auch wenn die „Soldaten ehrenhaft, gewissenvoll und tapfer an verschiedenen Fronten kämpften, zweifelsfrei an Kriegsverbrechen“ (Sembritzki) beteiligt war.

Letztlich bleibt aber der Zweite Weltkrieg die Geburtsstunde moderner Spezialkräfte wie der Fallschirmjäger der Luftwaffe, der Kommandosoldaten der Abwehr oder der aus den Meereskämpfern der Kriegsmarine hervorgegangenen Kampfschwimmer. Die Wehrmacht war nun einmal die erste Armee, die einen Überraschungsangriff aus der Luft im Krieg durchführte. Die Ausschaltung des belgischen Sperrforts Eben-Emael am 10./11. Mai 1940 durch 78 deutsche Fallschirmjäger gelte bis heute als Prototyp der Kommandooperation aus der Luft, so Neitzel. Dafür gebe es auch Anerkennung vom damaligen Kriegsgegner.

Spezialkräfte umweht aber nicht nur ein Mythos, sie werden auch immer wieder der Begegnung von Kriegsverbrechen verdächtigt, so die 82nd oder 101st Airborne Division in Vietnam und der Normandie, die australischen Special Forces in Afghanistan. Über dem deutschen Kommando Spezialkräfte (KSK) schwebt dieser Verdacht nicht, weil es im Unterschied zu den US-Spezialkräften keine Todeslisten abarbeiten mußte, sondern für die Festnahme von Talibanführern und zur Ausbildung Einheimischer eingesetzt wurde. Trotzdem ist das KSK wegen vermeintlich rechtsextremen Gedankenguts in die Schlagzeilen geraten. Teile mußten auf politischen Druck aufgelöst werden.

Letztlich bleibt der ungelöste Widerspruch zwischen einer Gesellschaft, in der Soldaten als friedliche, wenn auch „bewaffnete Aufbauhelfer, als eine Art Sozialhelfer“ gelten, und im geheimen agierenden Spezialkräften, die „auch im Frieden im Krieg“ sind. Daß diese Kämpfer „deshalb eine besondere Kultur ausprägen“ und sich auch eigene Vorbilder und Traditionen schaffen, werde in vielen westlichen Ländern akzeptiert, in denen Gewaltaffinität nicht als Makel gelte, sondern als Leistungsmerkmal, was nicht zuletzt an Büchern und Filmen wie „American Sniper“ abzulesen sei. 

Einsatzsoldaten brauchen Vorbilder, die gekämpft haben, die in ihre Lebenswelt passen und die ihnen auch eine seit gut dreißig Jahren in Kriegs-einsätzen befindliche Bundeswehr nicht liefern kann. In Deutschland werde dagegen der „von ihren Aufträgen und ihrer Ausbildung geformte rustikale Habitus von Spezialkräften“ nicht akzeptiert. Neitzel wirft der Bundeswehrführung vor, sich nicht „früher aktiver und geordneter um die ‘Stammeskultur’ etwa des KSK“ gekümmert zu haben: Die Bundeswehr habe sich nicht damit beschäftigt, welche Traditionen eine Armee benötigt, die in Kampfeinsätze geht, und die Politik habe zu lange geschwiegen, weil es der deutschen Gesellschaft schwer zu vermitteln ist, daß Soldaten in Kriege ziehen. „All dies trug dazu bei, daß es zu Fehlentwicklungen im Umgang mit Regeln und Normen der Streitkräfte kam.“

 https://www.bundeswehr.de

Fotos: Transporthubschrauber CH-53 setzt Gebirgsjäger ab: Aus dem Slogan „eine starke Truppe“ entsteht kein traditionsbildender Mythos; Schallplatte mit dem Fallschirmjägerlied „Rot scheint die Sonne...“ des Heeresmusikkorps 9 aus den achtziger Jahren: Auch wegen der Zeile „Wenn Deutschland in Not, zu kämpfen, zu siegen, zu sterben den Tod“ ist das Singen dieses Liedes in der Bundeswehr heute untersagt