© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 18/22 / 29. April 2022

Der Citoyen stirbt aus
Victor Hanson sinniert, ob der Westen ohne staatsbürgerliche Gesinnung überleben kann
Erich Weede

Victor Davis Hanson hatte sich vor seiner Emeritierung mit dem klassischen Altertum, mit Griechenland und Rom, beschäftigt. Er weiß, daß man sich damals den Verlauf der Geschichte weniger als linearen Fortschritt und häufiger als Werden und Vergehen oder Aufstieg und Niedergang vorstellte. Jetzt ist er als Militärhistoriker Senior Fellow bei der Hoover Institution an der Stanford University. Militärhistoriker wissen um die Bedeutung von Zusammengehörigkeitsgefühl, Opferbereitschaft und Kampfgeist. Hanson ist auch stolz darauf, US-Amerikaner zu sein. Er hält die amerikanische Verfassung für die beste und am längsten bewährte Garantie der individuellen Freiheit, auch vor staatlichen Übergriffen. Aber eine freiheitliche Verfassung setzt selbständige und nicht von staatlichen Almosen abhängige Bürger voraus, die wissen, daß Rechte mit Pflichten gegenüber dem Staat korrespondieren müssen. In der individuellen Freiheit zu wählen und zu wirtschaften sieht Hanson die Wurzel der Größe Amerikas und implizit auch der anderen Länder des Westens.  

Nach Hanson ist die freiheitliche Ordnung der USA und des Westens bedroht, weil es uns materiell so gut geht, daß wir die Voraussetzungen von Freiheit und Wohlstand vergessen. Das beginnt in den Köpfen der Eliten, die unsere Gesellschaft allzu kritisch sehen und übersehen, daß es unter Menschen keine perfekte Gesellschaftsordnung geben kann. Hanson wirft diesen hyperkritischen Eliten intellektuelle Faulheit vor, wenn sie sich als Kosmopoliten sehen und eine universelle menschliche Bruderschaft anstreben. Für ihn sind Weltbürger von der eigenen Gesellschaft entfremdet. Eine Gesellschaft ohne Grenzen und Kontrast zu anderen Gesellschaften ist für ihn undenkbar. 

Gefahren für die USA sieht Hanson in der Schwächung der Mittelschicht und im zunehmenden Reichtum einer globalisierten Elite. Dabei knüpft er an die antiken Denker an, die in einer starken Mittelschicht die Basis eines gesunden Staates sahen. Aber in Amerika stagnieren die mittleren Einkommen, weil gut bezahlte Arbeitsplätze im Mittleren Westen der Globalisierung zum Opfer gefallen sind. Die Verschuldung der Haushalte nimmt zu. Hanson erwähnt, daß 58 Prozent aller Amerikaner nicht einmal ein Vermögen von eintausend Dollar auf dem Konto haben. Er betont die Kosten statt der Vorteile des Freihandels. 

Nach Hanson sollte der Staat zwischen Bürgern und anderen auf seinem Territorium anwesenden Menschen unterscheiden, gerade auch bei der Zahlung von Sozialleistungen. Von Zuwanderern muß er Assimilation und Integration verlangen, die Bereitschaft sich einzuordnen und das Bekenntnis zur freiheitlichen US-Verfassung. Hanson erwähnt, daß Ausländer etwa 14 bis 17 Prozent der in den USA lebenden Bevölkerung ausmachen, aber 2019 zu 64 Prozent aller Verhaftungen beigetragen hatten. Ein Staat, der zu wenig verlangt, kann weder Freiheit noch Eigentum, noch Wohlstand seiner Bürger sichern. Die Staatsbürgerschaft hat für Hanson absolute Priorität vor partikularen Identitäten, die sich aus Hautfarbe, ethnischer Herkunft, Religion oder Geschlecht ergeben können. Er lehnt es ab, von meritokratischen Idealen bei der Stellenbesetzung – beispielsweise an Universitäten – zu Quoten nach Hautfarbe oder Geschlecht überzugehen. Das bewirkt nicht Einheit und Gerechtigkeit, sondern Spaltung der Gesellschaft. 

Viele US-Amerikaner profitieren keineswegs von der Globalisierung

Gefährdet wird eine freie Gesellschaft auch durch das zunehmende Gewicht nie gewählter Inhaber von Machtpositionen. An erster Stelle gilt das für die staatliche Bürokratie, die sich mit zunehmender Komplexität der Regeln und Gesetze immer mehr der Aufsicht durch gewählte Politiker entziehen kann. Als Beispiele bürokratischer Mißwirtschaft oder Anmaßung erwähnt er seine Erfahrungen als Rosinenfarmer in Kalifornien, die ein für die USA kaum glaubliches Maß an Planwirtschaft zeigen, aber auch den Anspruch mancher von Donald Trump ernannter Amtsinhaber, im Gegensatz zum Präsidenten erwachsen oder urteilsfähig („adults in the room“) zu sein. Dadurch wird das Wahlrecht der US-amerikanischen Bürger abgewertet. 

Gefährdet wird Amerikas Demokratie auch durch „Evolutionisten“, die die US-amerikanische Verfassung durch Neuinterpretation an den egalitären Zeitgeist der Eliten anpassen wollen und das nicht etwa durch die in der Verfassung vorgesehenen Möglichkeiten der Verfassungsänderung. Die Modernisierer würden vermutlich an der erforderlichen Zweidrittelmehrheit im Kongreß und der zusätzlich erforderlichen Dreiviertelmehrheit unter den Einzelstaaten scheitern. Innenpolitisch ist das Ziel der Evolutionisten mehr Ergebnisgleichheit statt Chancengleichheit. Sicherheitspolitisch ist das darauf hinausgelaufen, daß dem Senat entgegen der Verfassung das Recht der Kriegserklärung genommen und auf den Präsidenten übertragen worden ist. Wenn Einzelstaaten oder Städte entweder föderale Gesetze nicht vollziehen – beispielsweise bei „Black Lives Matter“-Protesten – oder das geltende Recht nicht auf illegale Einwanderer anwenden, sondern sich als Schutzzone erklären, trägt auch das zum Abbau der Volksherrschaft durch gewählte Repräsentanten bei. Das im first amendment garantierte Recht der freien Meinungsäußerung wird von denen, die die Gesellschaft besser und gerechter machen wollen, ihren Gegnern nicht mehr zugestanden. Wie der Umgang mit Trump bei Twitter und Facebook zeigt, wird dabei auch die private Macht politisch korrekter Superreicher eingesetzt. 

Nach Hanson überschätzen die globalisierten Eliten Amerikas und des Westens ihr Wissen. Sie glauben zu wissen, was andere wollen und erkennen noch nicht einmal, daß mehr als die Hälfte der US-Amerikaner nicht von der Globalisierung profitiert hat. Sie halten alle Kulturen und alle Individuen für gleichwertig, obwohl manche Kulturen den Gedanken der Gleichwertigkeit von Männern und Frauen oder von Angehörigen der eigenen und anderen Religionen explizit ablehnen. Den Widerstand einfacher Amerikaner gegen eine allzu kostspielige Außenpolitik halten sie für undemokratisch. Damit übersehen die Möchtegern-Wohltäter der Menschheit, daß der Versuch die Welt zu einen immer auf Zwang beruht hat und beruhen wird. Im Epilog verteidigt Hanson Donald Trumps Versuche, die Mittelschicht zu stärken, utopischen Eliten und der Globalisierung aber Einhalt zu gebieten. 

Das Buch ist lesenswert. Dieses Urteil impliziert aber nicht unbedingt Übereinstimmung von Verfasser und Rezensent. So überschätzt Hanson den Wert von Verfassungen als Bollwerk der Freiheit und unterschätzt den Wert der wirtschaftlichen Freiheit und vor allem des Freihandels. Aber man sollte das Buch als Erinnerung verstehen, daß eine freiheitliche Gesellschaft immer psychologische und politische Voraussetzungen hat, daß sie auch verteidigungsfähig sein muß. Nach Hanson gilt: Je weniger die herrschenden Eliten noch die Interessen der eigenen Gesellschaft und ihrer Mehrheit vertreten wollen, desto gefährdeter wird die Gesellschaft – in Amerika und anderswo. 

Victor Davis Hanson: The Dying Citizen. How Progressive Elites, Tribalism, and Globalization Are Destroying the Idea of America. New York: Basic Books 2021, gebunden, 420 Seiten, 30 US-Dollar