© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 18/22 / 29. April 2022

Der Flaneur
Erinnerungen an „Heinz“
Paul Leonhard

Da sitzt er. Verschmitzter Blick, gelockte Haare, die hinten in einem Ludenzopf auslaufen, Rauschebart, leicht getönte Brille. Sicher, er ist viel älter geworden, aber immer noch ein Kumpeltyp auf den ersten Blick und auch auf den zweiten. Einer jener Menschen, die etwas ausstrahlen, das einen dazu verleitet, ihnen fast alles anzuvertrauen.

Ich sitze in der Kantine eines großen Verlagshauses, als ich ihn entdecke. Er hockt vielleicht 20 Meter entfernt an einem Vierertisch, und ich kenne sogar die Journalisten zumindest dem Namen nach, die gerade andächtig seinen Geschichten lauschen. Im Anekdotenerzählen war E. schon immer gut. Die Pointen saßen immer, die Lacher kamen an den gewünschten Stellen. Auch im Studentenklub war er eine große Nummer, sogar noch weit nach der Wende. Wenn er noch als Weißhaariger DJ Platten auflegte, war Stimmung garantiert. Nicht jedem ist so ein Händchen gegeben.

Soll ich hingehen, ihn mit seiner Vergangenheit konfrontieren, die bei ihm sitzenden Kollegen aufklären?

Nach 1990 wurde es in der Medienwelt ruhiger um ihn. Es war die Zeit, als die neuen Besitzer der Gelddruckmaschinen namens ehemalige SED-Bezirkszeitungen zwar nicht die eingespielten Redaktionen leerten, indem sie alle Genossen auf die Straße beförderten, aber wenigstens die übelsten Stasi-Spitzel mußten dran glauben.

Daß E. zu diesen gehörte, bekam ich Ende 1999 schwarz auf weiß. Als IMB „Heinz“ gehörte er zu jenem knappen Dutzend ehrenamtlicher Zuträger des Mielke-Ministeriums, die sich unter anderem mit mir beschäftigen mußten und dank derer Ereignisse und mir zugeschriebene Äußerungen dokumentiert wurden, an die ich tatsächlich nicht einmal den Hauch einer Erinnerung hatte, als ich sie denn einsehen konnte.

Ich habe zu lange hingeschaut. „Heinz“ hat mich erkannt, ich bemerke es, weil er wegschaut, dann wieder zu mir und sich dann ganz abwendet. Was macht er eigentlich hier? Informationen von Demos und Nachbarn liefern, unter Pseudonym schreiben? Soll ich hingehen, ihn mit seiner Vergangenheit konfrontieren, die bei ihm sitzenden Kollegen aufklären? Ich entscheide mich dagegen, ich habe an meinem Tisch Wichtiges zu diskutieren: Meinungs-, Demonstrations- und Pressefreiheit. Ob auch diesmal jemand einen Bericht schreibt?