© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 19/22 / 06. Mai 2022

„Das würde den Euro zerreißen“
Krise: Die Inflation galoppiert, doch der Politik sind die Hände gebunden. Warum, erklärt der Ökonom Gerald Mann
Moritz Schwarz

Herr Professor Mann, wie schlimm wird die Inflation? 

Gerald Mann: Einige Faktoren sprechen leider für weiterhin hohe, vielleicht sogar steigende Inflationsraten – etwa die seit Jahrzehnten das Wirtschaftswachstum übertreffende Ausdehnung der Geldmenge, die rapide steigenden Erzeugerpreise, eine beginnende Fragmentierung der Weltwirtschaft sowie zu erwartende Lohnsteigerungen. 

Aber gibt es nicht auch gegenläufige Faktoren?

Mann: Doch, natürlich, etwa eine Normalisierung der globalen Wertschöpfungsketten oder ein schnelles Ende des Krieges um die Ukraine – nur dürften die wohl eher nicht bald wirksam werden.

Laut eigenen Angaben können bereits 15,2 Prozent der Deutschen kaum noch ihre Lebenshaltungskosten bestreiten. Was sollen Bürger tun, die bereits jetzt oder in Bälde finanziell nicht mehr mithalten können?

Mann: Was die Transferleistungsempfänger angeht, braucht man sich zunächst weniger Sorgen zu machen. Denn hier wird der Staat, solange er kann, für Entlastung sorgen. Härter trifft es dagegen schon jetzt jene, die durch eigene Arbeit und ohne Transfer gerade so über die Runden kommen. Auch hier wird es zwar die eine oder andere staatliche Hilfszahlung geben, aber die Inflation wird den Lebensstandard spürbar senken. Und auch die Mittelschicht wird Wohlstandsverluste hinnehmen müssen. 

Wirtschaftsminister Christian Lindner warnt inzwischen öffentlich: „Diese Entwicklung kann zu einer großen Krise führen.“ Inwiefern? 

Mann: Die deutsche Wirtschaft war in den letzten zwei Dekaden dank ihres exportorientierten Geschäftsmodells sehr erfolgreich. Vereinfacht gesagt: Wir waren zwar fleißig, haben aber die Verantwortung für Wirtschaftswachstum nach China, die für billige Energie nach Rußland und die für Sicherheit an die USA delegiert. Dies ermöglichte, entgegen vielen irreführenden Darstellungen, auch eine enorme Umverteilung durch den Sozialstaat. Doch wenn nun durch eine Neuaufstellung der Weltwirtschaft, weiter steigende Energiepreise, deutlich mehr Ausgaben für Rüstung sowie Abwanderung Gutqualifizierter Wertschöpfung und damit auch Steuereinnahmen und Sozialabgaben wegfallen, dann kann daraus in der Tat eine ganz große Krise entstehen.

Was können wir dagegen tun?

Mann: In unserem Papiergeldsystem ist es Aufgabe der Zentralbanken, Inflation zu bekämpfen. Denn im Kern hat sie etwas mit der Geldmenge zu tun, für die diese Institutionen die Verantwortung tragen. Die Politik kann also die Folgen von Inflation ausgleichen oder zumindest mildern. Das wird jetzt durch verschiedene Maßnahmen auch angestrebt. Doch kosten diese Geld oder führen zu Mindereinnahmen des Staates – was der wiederum durch mehr Schulden ausgleicht. Wenn die aber direkt oder indirekt durch die Notenbanken finanziert werden, treibt das die Inflation weiter an. Und der Staat sollte tunlichst Eingriffe in den Marktmechanismus wie Preisdeckel etc. unterlassen. Das paßt nicht zur Marktwirtschaft und schadet mehr als es nutzt.

Allerdings gab es eine Inflation wie jetzt, von über sieben Prozent, auch schon 1981 – und haben wir sie damals nicht doch ganz gut überstanden? 

Mann: In der Tat brachten die beiden Ölkrisen 1973 und 1979 auch je eine Inflationswelle sowie einen deutlichen Anstieg der Arbeitslosigkeit mit sich. Doch waren die Gewerkschaften damals mächtiger und konnten für jene, die ihren Arbeitsplatz behielten, einen Inflationsausgleich durch Lohn­erhöhungen bewirken. Allerdings stiegen so die Lohnstückkosten derart, daß ab der zweiten Inflationswelle dauerhaft über zwei Millionen Arbeitslose von der Allgemeinheit alimentiert werden mußten. Damals entstand auch der Begriff „Stagflation“, eine Verbindung von Stagnation und Inflation: die Wirtschaft wächst nicht mehr, während gleichzeitig Inflation und Unterbeschäftigung herrschen. Und das wird jetzt auch wieder befürchtet.

Wie wurde damals die Inflation überwunden, und läßt sich das nicht heute wiederholen?

Mann: Damals wurden, angeführt von der US-Zentralbank Federal Reserve unter ihrem legendären Vorsitzenden Paul Volcker, in vielen Ländern die Leitzinsen über die Inflationsrate gehoben. So entstand wieder ein positiver Realzins, und das sogar bei kurzen Laufzeiten – dieser ergibt sich, wenn man vom Nominalzins die Inflationsrate abzieht. Sparer erzielten so wieder Wertzuwächse. Allerdings gerieten dadurch die Volkswirtschaften in eine Rezession mit steigender Arbeitslosigkeit, was nur bedingt populär war: Jimmy Carter verlor 1980 seine Wiederwahl als US-Präsident und Helmut Schmidt 1982 das Kanzleramt. Aber die hohen Inflationsraten waren immerhin überwunden.

Und wäre nun dieser Weg nicht auch heute denkbar?

Mann: Denkbar schon, aber eben auch sehr unwahrscheinlich. Denn die damalige Inflationsbekämpfung mittels positiver Realzinsen erfolgte bei Staatsschulden, die – gemessen an der Wirtschaftsleistung – bei etwa der Hälfte oder sogar nur einem Drittel der heutigen lagen. 

Und warum ist das so wichtig? 

Mann: Weil Inflation für die Finanzpolitik hochverschuldeter Staaten eigentlich eine ganz angenehme Sache ist. Denn sie macht es diesen leichter, ihre Schuldenlast zu tragen. Sicher werden wir zwar auch jetzt mehr oder weniger kosmetische Zinserhöhungen erleben – doch ganz sicher keine Inflationsbekämpfung mit Biß à la Paul Volcker! Zumal ja ohnehin durch die Kriegs- und Sanktionsfolgen eine Rezession immer wahrscheinlicher wird.

Also führt der Hinweis, 1981 haben wir die Lage auch bewältigt, in die Irre und die Gefährlichkeit der jetzigen Situation ist keineswegs überbewertet? 

Mann: Nein, eine Überbewertung der Gefahrenlage nehme ich nicht wahr. Es sei denn, der Ukraine-Krieg wäre morgen vorbei, Corona verschwunden und alle hätten sich wieder lieb. Da damit aber nicht zu rechnen ist und wir es mit einem wahren Giftcocktail für den Wirtschaftsstandort Deutschland zu tun haben, muß man wirklich mit einer großen Krise rechnen – da hat Herr Lindner schon recht.

„Giftcocktail“?

Mann: Ich sagte doch, die Kombination von Inflation, insbesondere steigenden Energie- und Rohstoffpreisen, die zu einer Preis-Lohn-Spirale führen wird, sowie Neuaufstellung der Weltwirtschaft mit schwierigerem Zugang zu wichtigen Märkten, hoher Staatsverschuldung und Krieg in der Nachbarschaft stellt das bisherige Wirtschaftsmodell Deutschlands mit hohen Sozialtransfers in Frage. Es könnte bald lauten: „Party is over“ – das Fest ist vorbei.

Rechnen Sie mit politischen Folgen, könnte das gar unsere Gesellschaft verändern?

Mann: Ja, denn eine solche Krise wird sich nicht auf die Wirtschaft beschränken, sondern auch soziale und politische Dimensionen annehmen. Mit einem Erstarken des Sozialpopulismus von links wie von rechts wäre dann zu rechnen – Frankreich läßt grüßen! Und noch schlimmer würde es, wenn der Staat seine Wohlfahrtsversprechen nicht mehr halten kann. Immer weniger Menschen in Deutschland glauben an Gott, aber die Staatsgläubigkeit nimmt über die politischen Lager hinweg noch zu – da wird Enttäuschung nicht ausbleiben. Übrigens, auch eine Folge wäre die Renaissance der Familie: Kinder würden wieder als Altersvorsorge erkannt.

Was sind eigentlich die Hauptursachen für diese Inflation? Ist das alles die Schuld von Covid-Krise und Ukraine-Krieg, wie es gerne dargestellt wird?

Mann: Man muß hier unterscheiden zwischen den auslösenden Faktoren und den nachhaltigen Triebkräften. Die Preissprünge beim Wiederanspringen der Weltwirtschaft nach der Pandemie sowie jetzt durch den Krieg sind nicht von der EZB zu verantworten. Doch daß diese Auslöser nun in dauerhaft hohe Inflationsraten übergehen können, das hat mit der Geldpolitik weltweit zu tun. Seit dem Wegfall der letzten Anbindung des Dollars an Gold im Weltwährungssystem im Jahr 1971 hat man die Geldmengen stets deutlich mehr wachsen lassen als die Wirtschaftsleistung. Bildlich gesprochen: Die Zentralbanken haben Brennholz aufgetürmt – und jetzt hat ein Funke, für den sie nichts können, das Inflationsfeuer entfacht. Daß es nun aber lange und kräftig brennen wird, das haben die Notenbanken schon zu verantworten.

Was ist mit der Energiewende, sie hat die EZB nicht zu verantworten, spielt aber doch auch eine Rolle, oder?

Mann: Ja, denn durch die Energiewende haben wir in Deutschland mit die höchsten Energiepreise weltweit. Ob dagegen erneuerbare Energien tatsächlich einmal so günstig werden, daß diese Last zu einer rentablen Zukunftsinvestition mutiert, das bleibt abzuwarten. Verschärft wird die aktuelle Lage, weil die Verantwortlichen die vielen Warnungen – sogar von Joschka Fischer! –, man könne nicht auch noch gleichzeitig aus Kohle- und Atomstrom aussteigen, in den Wind geschlagen haben. Als „Brücke“ sollte da günstiges Gas aus Rußland dienen. Doch das fällt vielleicht bald ganz weg, was zu weiteren Preissteigerungen führen würde. Befremdlich ist das Festhalten an der „Heiligen Kuh“ des Atomausstiegs. Nicht einmal eine temporäre Verlängerung der noch laufenden AKW wird entschieden angegangen. Dabei sollten das angesichts dieser Lage selbst grundsätzliche Gegner der Atomkraft mittragen können. Es geht um Versorgungssicherheit!

Die Zentralbanken haben das Feuer der Inflation zwar nicht entzündet, doch für reichlich Brennstoff gesorgt, sagen Sie. Warum aber beginnt die EZB jetzt nicht wenigstens mit dem „Löschen“?

Mann: Weil sie vor diesem Zielkonflikt steht: Entweder sie bekämpft die Inflation durch eine massive Zinserhöhung – oder sie hält die Finanzierbarkeit hochverschuldeter Euro-Staaten und die Konjunkturförderung durch weiterhin niedrige Zinsen aufrecht. Und mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit wird sich die EZB für das „oder“ entscheiden. Denn eine vergleichbar ambitionierte Inflationsbekämpfung wie vor vierzig Jahren würde heute hoch verschuldete Euro-Länder in den Bankrott treiben – und das wiederum die Eurozone zerreißen.

Warum ist die Inflation nicht schon vor den Zündfunken Covid und Krieg ins Lodern geraten? Schließlich ist eine viel zu große Geldmenge schon lange im Umlauf.

Mann: Ja, in den letzten Jahrzehnten wurde sie massiv ausgedehnt. Daß die Geldflut dennoch nicht den Preisindex der offiziellen Inflationsmessung getrieben hat, das lag – neben anderen Faktoren wie preisdämpfenden Effekten durch Importe –, an der sinkenden Umlaufgeschwindigkeit des Geldes. Darunter versteht man die Zeitdauer, in der die komplette Geldmenge sozusagen einmal den Besitzer wechselt. Nun werden wir allerdings einen Anstieg der Umlaufgeschwindigkeit erleben, und zwar weil die Opportunitätskosten der Geldhaltung durch den inflationsbedingten Kaufkraftverlust ansteigen – oder einfacher: Bei Inflation gibt man sein Geld lieber aus, als ihm beim Wertverfall auf dem Konto zuzusehen und ergo nimmt die Umlaufgeschwindigkeit zu. Das aber beschleunigt die Inflationsrate noch zusätzlich. Tja, langfristig läßt sich ein Zusammenhang von Geldmenge und Preissteigerung eben nicht leugnen.

Warum ist so viel „Brennholz“ überhaupt gespalten, sprich die Geldmenge so ausgedehnt worden?

Mann: Ganz besonders expansiv war die Geldpolitik in der Finanzkrise 2008/09 sowie jetzt bei Corona. Denn die Zentralbanken ermöglichten den Staaten, zinsgünstig Schulden zu machen, damit sie Konjunkturpakete finanzieren können, um ein noch stärkeres Abstürzen der Wirtschaftsaktivitäten zu verhindern. Diese kurzfristige „Schmerzlinderung“ hat aber langfristig einen Preis: Das Schmerzmittel wirkt immer weniger und die Dosis muß also gesteigert werden. Das hat mit dem sinkenden sogenannten Grenznutzen zu tun, was bedeutet: Jede zusätzlich in Umlauf gebrachte Geldeinheit hat eine immer geringere Wirkung. So werden die Schuldenberge immer höher. Und dieses Spiel geht natürlich nicht ewig gut. Es wird daher spannend zu beobachten, ob mit dem gegenwärtigen Geldsystem eine weitere schwere Wirtschaftskrise noch wie gehabt zu meistern sein wird.






Prof. Dr. Gerald Mann, der Volkswirtschaftler lehrt an der privaten FOM Hochschule für Ökonomie und Management in München. Er arbeitete als Unternehmensanalyst für eine Großbank und war Gastdozent in China. 2015 veröffentlichte er gemeinsam mit Ulrich Horstmann das Buch „Bargeldverbot. Alles, was Sie über die kommende Bargeldabschaffung wissen müssen“, das sich für den Erhalt der Barzahlung ausspricht. Geboren wurde Gerald Mann 1968 in München.

Foto: Flaschensammlerin: „Die Zentralbanken haben ‘Brennholz’ aufgetürmt – ein ‘Funke’ hat nun das Inflationsfeuer entfacht ... Der Lebensstandard wird spürbar sinken, besonders trifft es die, die eben so über die Runden kommen. Und auch die Mittelschicht wird Wohlstandsverluste erleben“