© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 19/22 / 06. Mai 2022

Dran, drauf, drüber
Verteidigung: Damit die Bundeswehr die zusätzlichen hundert Milliarden Euro bekommt, muß das Grundgesetz geändert werden/ Die notwendige Mehrheit dafür dürfte stehen
Christian Vollradt

Vor kurzem machte ein Landwirt im Osten Niedersachsens eine seltsame Entdeckung. Als er auf seinem Acker gerade den Zustand des Weizens kontrollierte, bemerkte er auf einem der angrenzenden Feldwege eine größere Gruppe Soldaten. Auf seine Frage, was sie denn da täten, gab ein Hauptmann bereitwillig Auskunft: Man übe hier mit jungen Offizieranwärtern, das Gelände zu inspizieren, außerdem solle der Führungsnachwuchs seine praktischen  Kenntnisse im Bau von Fahrzeug- und Panzersperren vertiefen. „Der Generalinspekteur hat vorhin auch schon vorbeigeschaut“, ergänzte der Offizier freundlich. Daß sich Deutschlands oberster Soldat an einem Frühlingstag mitten im Nirgendwo zwischen Elm und Asse aufhielt, erstaunte den Mann auf seinem Traktor dann doch.

Er habe sich, meint der Landwirt später, ein bißchen an seine Kindheit in den frühen achtziger Jahren erinnert. Da fanden zu Zeiten des Kalten Kriegs im damaligen Zonenrandgebiet häufiger Manöver statt, fuhren Panzer über die Äcker, bezogen Soldaten der Bundeswehr oder der in der Nähe stationierten britischen Alliierten Quartier auf dem Bauernhof der Familie. Die Gäste unter den Tarnnetzen teilten gern ihre Ein-Mann-Rationen und ließen die begeisterten Schuljungs auf dem schweren Gerät herumklettern. Ein Hauch von Abenteuer. 

Lang ist’s her. Nach der Wiedervereinigung wurde die Friedensdividende eingestrichen, die Bundeswehr mußte verkleinert werden, sämtliche Kasernen im Umkreis geschlossen. Nun kehrt in der aktuell zugespitzten Sicherheitslage nach dem Angriff Rußlands auf die Ukraine das Olivgrün also zunehmend auch in die seit 30 Jahren demilitarisierten Landstriche zurück. 

„Muß kämpfen können, um nicht kämpfen zu müssen“

Was für viele jüngere Menschen ungewöhnlich, gar beunruhigend ist – Grundschullehrerinnen berichten von aufgeschreckten Kindern, nachdem Hubschauber im niedrigen Formationsflug über den Schulhof geknattert seien – hat manch älteres Semester ein Déja-vu. Da warnt der Verkehrsfunk, daß größere militärische Konvois auf den Straßen unterwegs sind. Allein im niedersächsischen Munster üben noch bis zum 20. Mai etwa 7.000 Soldaten, die laut Angaben des Landeskommandos mit rund 2.000 Fahrzeugen unterwegs sind. 

Und weil im digitalen Zeitalter nicht mehr nur „Pssst, Feind hört mit“ gilt oder auch „Loose lips sink ships“, wurden an einigen Autobahnen im Bundesgebiet die Kameras zur Verkehrsüberwachung abgeschaltet – aus Sicherheitsgründen. Da jetzt „vermehrt Aktivitäten von sicherheitspolitisch relevanten Akteuren im Straßenraum erforderlich“ seien, gebe es keine Live-Bilder, hieß es bewußt unbestimmt aus dem Bundesverkehrsministerium. 

Die Luftwaffe wiederum bat an einem Fliegerhorst in Bayern darum, keine startenden und landenden Flugzeuge zu fotografieren. Schlechte Zeiten für die sogenannten „Spotter“, deren Hobby es ist, am Zaun zu lauern und spektakuläre Aufnahmen der Düsenjäger zu machen. „Die Anforderungen für die Wahrung der militärischen Sicherheit“ seien derzeit „höher als noch vor kurzem“, mahnte die Bundeswehr auch in den sozialen Netzwerken. Das gilt besonders für ihre eigenen Angehörigen, die zur Zurückhaltung beim Posten von Fotos aufgefordert wurden. 

Ebenfalls wie eine Mitteilung aus ferner Vergangenheit klingt, wovor besonders in Süddeutschland die Behörden warnen: Die Bevölkerung möge sich bitte nicht erschrecken, wenn übende Düsenjäger mit einem lauten Knall die Schallmauer durchbrechen. Vor 1989 ein nahezu alltägliches Geräusch, mittlerweile ein erklärungsbedürftiges Phänomen. Die Zeitenwende, von der der Bundeskanzler jüngst sprach, wird also auch „bei den Menschen draußen im Lande“ sicht- und hörbar. 

Unterdessen hat der Bundestag die politischen Konsequenzen der Scholzschen Ankündigung ein Stückchen fester gezogen. Vergangene Woche berieten die Abgeordneten in erster Lesung über die Gesetzentwürfe zur Errichtung eines „Sondervermögens Bundeswehr“. Die Quintessenz: Bis auf die Linksfraktion sind im Prinzip alle dafür. Denn auf die dramatisch veränderte Sicherheitslage müsse man reagieren, so Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP): „Man muß kämpfen können, um nicht kämpfen zu müssen“. Daher sei die Bundeswehr zu ertüchtigen. Dissens gab es vor allem bei der Umsetzung.  

So pochte Alexander Dobrindt (CSU) darauf, daß die hundert Milliarden Euro ausschließlich für die Rüstungsvorhaben der Bundeswehr ausgegeben werden müßten – „und für nichts anderes“. Der  Formulierungsvorschlag der Ampelkoaltion lasse aber auch viele andere Verwendungen zu. Auch müsse es dabei bleiben, daß das Zwei-Prozent-Ziel der Nato mit dem regulären Verteidigungshaushalt erfüllt werden müsse – also ohne Berücksichtigung des Sondervermögens. An dem monierte die Union zudem einen fehlenden Tilgungsplan. 

Die AfD stimmte dem Ziel zu, übte jedoch harsche Kritik am eingeschlagenen Weg via Sondervermögen. Das sei ein haushalts- und verfassungsrechtlich bedenklicher Trick, meinte Finanzpolitiker Peter Boehringer. Er erinnerte an Bismarcks Aushebelung parlamentarischer Rechte, als der den Wehretat für mehrere Jahre festgeschrieben und damit der Kontrolle durch die Volksverteter entzogen habe.

Die erste Hürde ist also offenbar genommen: Eine Zweidrittelmehrheit für die Grundgesetzänderung – Voraussetzung, daß das Sondervermögen, sprich: die extra Portion Schulden jenseits der Schuldenbremse aufgenommen werden kann – dürfte stehen. Wobei die Union nicht müde wird zu betonen, daß es da noch die besagten Details zu klären gebe. 

Theoretisch könnten sogar mit den Stimmen der AfD-Fraktion einige Abweichler in Koalition und Union ausgeglichen werden. In der Praxis dürfte eine Grundgesetzänderung, die nur dank der AfD zustande käme, allerdings als ausgeschlossen gelten. 

Unklar ist nach wie vor, wie lange das Sondervermögen läuft. Offiziell so lange, bis kein Geld mehr da ist. Geplant sei allerdings, die hundert Milliarden in den kommenden fünf Jahren auszugeben. „Nach Ende des Sondervermögens muß der reguläre Verteidigungshaushalt so angepaßt werden, daß Deutschland das Zwei-Prozent-Ziel erfüllt“, sagte der verteidigungspolitischer Sprecher der FDP, Marcus Faber, dem Business Insider. Das würde bedeuten, daß pro Jahr rund 20 Milliarden mehr als heute aufgewendet werden müßten. Ob das mit den Parteilinken von SPD und Grünen, die schon jetzt zu murren beginnen, zu machen sein wird? 

Eine weitere entscheidende Frage ist indes immer noch nicht geklärt: Wofür genau sollen die zusätzlichen Milliarden ausgegeben werden? Klar ist, daß ein Teil des Geldes allein schon für die Deckung der höheren Personalkosten – auch ohne Aufwuchs – ausgegeben werden muß. Allein der Inflationsausgleich bei der Besoldung soll in diesem Jahr 180 Millionen Euro kosten. 

Einige konkrete Großprojekte sind bereits bekannt. Das Kampfflugzeug F-35 aus amerikanischer Produktion gehört dazu, ebenso ein Verteidigungssystem gegen ballistische Raketen und ein neuer schwerer Transporthubschrauber. Bei dem stehen zwei Modelle im Raum: Die CH-53K King Stallion von Sikorsky und die CH-47 Chinook von Boeing. Etwa 44 bis 60 dieser Drehflügler sollen beschafft werden. Die King Stallion gilt als der leistungsfähigere, aber in der Anschaffung auch teurere Hubschrauber. Für die Chinook sprechen die geringeren Anschaffungskosten und die verbreitetere Nutzung in der Nato, etwa bei den Holländern. Und weil mit dem Kampfflugzeug F-35 ein Produkt des Boeing-Konkurrenten Lockheed angeschafft wird, wäre, so die Spekulation, beim Drehflügler nun der Hersteller aus Chicago am Zug. 

Sieben Milliarden für den Heimatschutz

Jüngst waren Medienberichte erschienen, wonach sich die Bundeswehr bereits für den Chinook-Hubschrauber entschieden haben soll. Hierfür gab es keine offizielle Bestätigung, im Gegenteil. Laut Bundesverteidigungsministerium sei erst Mitte Mai mit einer Entscheidung zu rechnen, das letzte Wort habe ohnehin der Bundestag.

Zu bedenken ist außerdem: Was angeschafft wird, muß auch gewartet und instandbesetzt werden. Und mehr Waffen bedeutet auch mehr Munition. Mit anderen Worten: es entstehen Folgekosten, die im Haushalt berücksichtigt werden müssen.

Auch die persönliche Ausrüstung der Soldaten schlägt zu Buche. Nicht umsonst war im Bericht der Wehrbeauftragten des Bundestags, der vergangene Woche ebenfalls im Plenum debattiert wurde, wieder die Klage von Soldaten zu hören, sie müßten  Teile ihrer Ausrüstung selbst beschafften, weil das dienstlich gelieferte Material nicht immer die Qualität hatte, die man benötige. Nun soll bis zum Ende des Jahres 2025 jeder in der Truppe vollständig mit Schutzweste, Kampfbekleidung, neuem Helm und Rucksack ausgestattet werden. Volumen des Beschaffungspakets aus 305.000 Schutzwestensystemen, 150.000 Kampfbekleidungssätzen, 122.000 Gefechtshelmen sowie 250.000 Rucksäcken: rund 2,36 Milliarden Euro. Immerhin weist das Preisschild nicht immer einen so krassen Betrag aus wie das für den Helm eines F-35-Piloten, der allein schon 670.000 Euro kostet. 

Nicht nur Material und Munition, auch mehr Personal steht auf der Wunschliste. Allein zur Verbesserung der Fähigkeiten der Streitkräftebasis wären bis 2027 Haushaltsmittel in Höhe von rund 17 Milliarden Euro notwendig, erklärte jüngst der Inspekteur der Streitkräftebasis, Generalleutnant Martin Schelleis. Er bezifferte einen „vordringlichen Materialbedarf“ von rund 2,3 Milliarden Euro. Dies beinhaltet rund 110 Millionen Euro für Schwerlasttransporte, rund 180 Millionen Euro für Führungsfähigkeit, rund 1,9 Milliarden Euro für Straßentransporte und logistische Unterstützung sowie rund 110 Millionen Euro für die ABC-Abwehr, berichtete das Fachmagazin Europäische Sicherheit und Technik. Dies alles sei Teil eines „anerkannten Materialbedarfes“ von insgesamt rund sieben Milliarden Euro. Hinzu kämen weitere sieben Milliarden Euro für den Heimatschutz.

Und der Reservistenverband fordert darüber hinaus mehr Soldaten. „Insgesamt muß man auch über die Truppenstärke nachdenken. Mit rund 200.000 Soldaten ist die Bundeswehr zu klein“, sagte Verbandspräsident Patrick Sensburg der Rheinischen Post. Für die Landesverteidigung seien rund 340.000 Soldaten und 100.000 regelmäßig übende Reservisten nötig.

Ob dieser Aufwuchs – und wenn überhaupt, dann wann – Realität wird, wo die Nachwuchsgewinnung der Truppe schon jetzt eher mau ist? Sehr wahrscheinlich ist nur, daß dann wieder häufiger Männer und Frauen in Flecktarn irgendwo in einer deutschen Feldmark zwischen Weizen und Raps auftauchen, um das Gelände in Augenschein zu nehmen. Vielleicht sogar ab und an jemand mit vier goldenen Sternen auf der Schulter. 

Foto: Bundeswehrsoldaten führen eine Gefechtsübung vor: „Insgesamt muß man auch über die Truppenstärke nachdenken“