© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 19/22 / 06. Mai 2022

Juristische Finten und angebliche Knebelklauseln
Rohstoffimporte aus Rußland: Anhaltender Streit um neue Zahlungswege für Erdgas / Zerstören die Sanktionen das Vertrauen ins Vertragsrecht?
Thomas Kirchner

Die westlichen Sanktionen gegen Rußland sind in eine neue Stufe der Absurdität eingetreten. Einige Regierungen suchen verzweifelt Schlupflöcher in den Strafmaßnahmen, um die eigentlich von eben diesen EU-Sanktionen ausgenommenen Zahlungen für Gas erledigen zu können. Die naheliegende Lösung der Realpolitik, die Sanktionen anzupassen, ist bei dogmatischer Übermoral undenkbar. Geschäfte im Zusammenhang mit dem Import fossiler Brennstoffe sowie anderer Rohstoffe in die EU bleiben auch nach den Verschärfungen der Sanktionen vom 15. März erlaubt. Dennoch wollte Rußland offenbar das Risiko nicht eingehen, daß Deviseneinnahmen eingefroren würden und forderte Zahlung in Rubel.

Der von Rußland verlangte zweistufige Zahlungsmechanismus ist aber, wie die Importeure Bulgarien und Polen betonen, nicht ausgereift: In einem ersten Schritt überweist der westliche Käufer Dollar auf ein Konto bei der Gazprombank. Im zweiten Schritt wechselt die russische Bank das Geld dann in Rubel. Gehen die Rubel dann auf dem Konto von Gazprom ein, gilt das Gas als bezahlt. Das Problem dabei ist aber, daß der Wechselkurs schwanken kann und möglicherweise nicht genug Dollar überwiesen wurden, um die fälligen Rubel zu begleichen. Den Währungsumtausch kontrollieren nicht die Käufer, sondern die Bank. Die Käufer tragen aber das wirtschaftliche Risiko.

Trotz der Bedenken überwies Bulgargaz nun die fällige Zahlung, die auch in Rubel gewechselt und an Gazprom überwiesen wurde. Eigentlich wäre damit alles erledigt gewesen. Da jedoch die Tochterfirma der bulgarischen Staatsholding EAD die Vertragsänderung über die Zahlungsmodalitäten nicht unterschrieben hatte, argumentierten die Gazprom-Juristen, die Bulgargaz-Überweisung dürfe nicht angenommen werden. Wegen nicht erfolgter Zahlung kappte Gazprom dann Bulgarien das Gas, wie auch Polen, das sich grundsätzlich geweigert hatte, auf den Zahlungsmechanismus einzugehen.

Ein weiterer Energiekostenschub für die europäische Wirtschaft

Auf den ersten Blick erleichtert Wladimir Putins Dekret zur Rubelzahlung den Gasimporteuren die Zahlung, denn sie können weiterhin Euro überweisen. Aber nicht nur der Umtauschmechanismus ist unausgegoren. Eine weitere Hürde wurde gleich noch mit eingebaut: Die russische Zollbehörde kann den Export verbieten, wenn nicht vollständig gezahlt wurde. Dann ist Gazprom nicht vertragsbrüchig, sondern kann sich auf höhere Gewalt berufen. Mit dem Dekret hat der Kreml eine ansonsten gewöhnliche Vertragsanpassung auf die Bühne des politischen Theaters gehoben. Die EU griff prompt die Vorlage auf. EU-Juristen stellten klar, daß der Zahlungsmechanismus einen Verstoß gegen die Sanktionen darstellt, wenn die Zahlungsverpflichtung nicht erlischt, sobald die Euros auf dem Konto der Gazprombank eintreffen. Diese Maximalforderung war es, die Polen und Bulgarien vom der Unterzeichnung der Vertragsanpassung abhielten. Dabei wäre es ein leichtes für die EU, die Sanktionen geringfügig zu ändern – schließlich war ursprünglich das Ziel, die Sanktionen so zu gestalten, daß Gaslieferungen nicht beeinträchtigt werden. Im Kleinen zeigt sich hier die gleiche Kompromißunfähigkeit beider Seiten wie im Großen.

Nach dem aktuellen Streit über die Zahlungsweise zeichnet sich schon die nächste Auseinandersetzung ab: Die Verträge enthalten Klauseln über Mindestabnahmemengen. Werden russische Gaslieferungen tatsächlich durch andere Quellen ersetzt, müßten europäische Verbraucher Gazprom trotzdem noch für nicht abgenommene Gasmengen zahlen. Das wäre ein weiterer Energiekostenschub, der auf Europas Wirtschaft und Verbraucher zusätzlich zu den höheren Kosten des nicht-russischen Gases zukommt. Manche Beobachter sprechen von „Knebelklauseln“, doch Mindestabnahmemengen werden immer dann vereinbart, wenn eine Partei erhebliche Investitionen als Vorleistung erbringen muß. Und aus diesen Klauseln ist ein Ausstieg nicht so einfach.

Ab Juni 2014 stritten sich Gazprom und der ukrainische Gaskonzern Naftogaz vor dem Schiedsgericht der Stockholmer Handelskammer über die Liefer- und Transitverträge aus dem Jahr 2009. Es geht um Beträge, die zwischen drei und 37 Milliarden Dollar schwankten. 2017 sprach das Gericht Naftogaz 2,56 Milliarden Dollar an Rückzahlungen zu und verringerte die Mindestabnahmemenge wegen besonderer Umstände. Für ungültig erklärt wurde die Klausel aber nicht. Endgültig beigelegt wurde der Streit erst 2019 mit einem Vergleich im Rahmen neuer Lieferverträge. Der Transitvertrag enthält eine Pumpen-oder-Zahlen-Klausel. Die Ukraine bekommt Transitgebühren, auch wenn kein Gas fließt, also genau das Spiegelbild der Mindestabnahmeklausel der EU-Gaskunden.

Würden jetzt langfristige Verträge mit Rußland mit Mindestabnahmemengen gebrochen, stellt sich die Frage, mit welcher Glaubwürdigkeit man arabische Gas- und Ölscheichs zur Unterzeichnung langfristiger Lieferverträge überzeugen will. Schließlich liegen am Persischen Golf auch keine lupenreinen Demokratien. Und wenn sich der politische Wind in Deutschland erneut dreht, könnte eine künftige Regierung Menschenrechte als Ausrede für den Bruch der Verträge nutzen.

Aktuelle U-Sanktionen gegen Rußland: eur-lex.europa.eu