© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 19/22 / 06. Mai 2022

Origenes und der frühchristliche Gender-Diskurs
Selbstaufgabe der Kategorie Geschlecht
(dg)

Mit dem Namen des Kirchenvaters Origenes (etwa 184 bis 254) assoziiert man heute weniger seinen Rang als christlicher Dogmatiker als eine scheinbare Arabeske seiner Biographie: Er soll den wenigen dürftigen Quellen zufolge in jungen Jahren einem Arzt den Auftrag erteilt haben, ihn zu kastrieren. Dem Kulturphilosophen Simon Kießling gewährt dieser Eingriff tiefe Einblicke in ein frühchristliches Weltbild, das für ihn erstaunliche Parallelen mit dem des postmarxistischen Internationalismus und des transhumanistischen Utopismus aufweist (Tumult, 1/2022). Auch frühchristliche Theologen dachten, der Mensch sei fähig, den durch Adams Sündenfall entstandenen unvollkommenen Zustand der Geschlechtlichkeit bereits im Diesseits ansatzweise zu überwinden. Origenes habe mit seiner Selbstentmannung ein drastisches Beispiel dafür gegeben, daß es möglich ist, aus der Geschlechtlichkeit „auszusteigen“. Ihm taten es im 3. Jahrhundert Mönche und fromme Frauen nach, die in der ägyptischen Wüste ihre Körper durch strenge Askese von sichtbaren Zeichen der Geschlechtlichkeit befreiten, um den allen Christen verheißenen engelsgleichen Zustand im Himmel schon auf Erden zu erreichen. 2.000 Jahre später sei eine kulturalistisch-postmoderne Linke ähnlich entschlossen, den neuen, geschlechtslosen Menschen zu schaffen, indem sie die „Selbstaufgabe der Kategorie Geschlecht“ predige, um diesen „zentralen Strukturgeber gesellschaftlicher Ungleichheit“ zu beseitigen. Die angestrebte „gesamtmenschheitliche“ Einheit solle sich schließlich in der elektronisch-digitalen Verschmelzung der Individuen vollenden. 


 www.tumult-magazine.net