© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 19/22 / 06. Mai 2022

Katholizismus darf keine Gegenkultur mehr sein
Konfessioneller Partikularismus
(ob)

Die zahlreichen Fälle des sexuellen, psychologischen und geistlichen „Mißbrauchs“ spielen nach Ansicht von Tomáš Halík „in unserer Zeit für die Kirche eine ähnliche Rolle wie die Ablaßhandelsskandale, die im Hochmittelalter die Reformation ausgelöst haben“. Für den Priester und Prager Soziologieprofessor hat damit die katholische Kirche einen Punkt der Umkehr erreicht, der sie zur „radikalen Veränderung“ zwinge. So wie sie stets alle Formen des Götzendienstes, der Verabsolutierung des Relativen in säkularen politischen Ideologien und Utopien der Neuzeit bekämpft habe, müsse sie sich jetzt gegen ihre eigene Erstarrung im „Klerikalismus“ stellen. Denn diejenigen, die zum demütigen Dienst an der Allgemeinheit bestimmt sind, seien zur „herrschenden Klasse“ geworden, zu einer „heiligen Regierung“, die nicht nur das Monopol auf die Wahrheit beanspruche, sondern die sich, wie dies die Mißbrauchsskandale offenbart hätten, auch die Verfügung über Menschen anmaße. Die Kirche habe sich früh in die Sackgasse des „Katholizismus“ begeben, wo sie ihren Daseinssinn zunächst in der Verteidigung gegen den Protestantismus und seit dem 19. Jahrhundert im Abwehrkampf gegen die Moderne gefunden habe. Eingesponnen in ihren „konfessionellen Partikularismus“ habe die Kirche sich seitdem als „Gegenkultur“ verstanden und einen „Katholizismus der Kulturkriege“ gepflegt. Wenn sie zukunftsfähig bleiben wolle, müsse sie sich davon lösen und die eigenen institutionellen und mentalen Grenzen hin zu den anderen Religionen überschreiten. Das müsse keineswegs zum befürchteten Verlust der Identität des Christentums führen, sondern werde sie stärken (Herder Korrespondenz, 1/2022). 


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