© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 19/22 / 06. Mai 2022

Dorn im Auge
Christian Dorn

Wenn die Maus satt ist, schmeckt das Mehl bitter. Das gilt auch für den neu definierten Delinquenten im Corona-Maßnahmestaat, der in die Quarantäne verbannt ist: Jedes Bier, selbst das „Becks“, hinterläßt auf der Zunge einen befremdlichen Geschmack – als wäre alles hinter Glas. Zufällig treffe ich auf dem Weg in die Isolation meinen Nachbarn G., ohne den der Welthit „Am Fenster“ von City nie Wirklichkeit geworden wäre. Nach längerer Abwesenheit hat er seine Bleibe, sein „Munitionsdepot“ – so die scherzhafte Formulierung, anspielend auf einen russischen Sprachgebrauch – wieder bezogen und berichtet mir von einer Begebenheit viele Jahre zuvor in „Leningrad“ mit einem T-Shirt, das Putin auf einem russischen Bären reitend zeigte, mit einer Sonnenbrille im Gesicht und einem Sniper-Gewehr in der Hand. Während ich noch auf die Pointe warte, betritt den Hof die Tochter der ukrainischen Flüchtlingsfamilie mit den bezaubernd strahlenden Augen. Da sich beide sofort auf russisch verständigen, verabschiede ich mich – und fürchte: Es gibt wahrscheinlich gar keine Pointe zu dem Putin-T-Shirt.

Ruhelos wandert der Blick über die Rücken zahlloser Buchtitel, die noch ungelesen herumstehen.

Furcht auch beim unvermeidlichen Moment außer Haus: Jede visuelle Begegnung hinterläßt das Gefühl, als stünde mir die Infektion wie ein Kainsmal ins Gesicht geschrieben. Im Sozialismus galt das Wort als Waffe, jetzt ist es der Mensch, der mit einem bloßen Atemzug den anderen mittelbar ins Jenseits befördern kann. In der Apotheke heißt mich die Mitarbeiterin plötzlich stehenzubleiben, sie müsse ein Formular für den Datenschutz holen – mich beschleicht das Gefühl, als sei heimlich ein Alarmknopf gedrückt worden, auf daß ich sogleich von einer Handvoll Sicherheitsleute verhaftet werde. Während die Mitarbeiterin noch im hinteren Bereich unterwegs ist, überlege ich, ob es nicht ein negativer Wachtraum ist – und ich mir gleich Vorwürfe machen werde, weil ich nicht sofort aus der Apotheke geflohen bin.

Zum Glück ist es nur Kopfkino. Wie gut, daß auch im Lockdown die Gedanken frei sind – doch damit ist es nicht weit her. Gefangen in den eigenen vier Wänden, wandert der Blick ruhelos über die Rücken zahlloser Buchtitel, die noch ungelesen herumstehen – senkrecht, ja steif, als frierten auch sie bereits für die Freiheit. Dabei bringt kein Satz das Ende von 1989 besser auf den Punkt als Christoph Dieckmanns Fazit: „Die Zeit stand still, die Lebensuhren liefen.“ Gerade hat der Schriftsteller Bernd Wagner, der 1985 nach West-Berlin ausreiste, sein fulminantes Buch „Verlassene Werke“ (Faber & Faber) veröffentlicht, das zahllose Notate von 1976 bis Heiligabend 1989 versammelt. Beim Aufblättern stoße ich auf den Satz: „In der Sprachlosigkeit dieser Gesellschaft wird das Lesen wichtiger als je zuvor.“ Und weiter vorn, aus dem Jahr 1977: „Jedes Mal, wenn ich Christa Wolf getroffen habe, fühle ich mich um hundert Jahre gealtert.“ Beim „Hofgang“ stoße ich auf den Nachbarn, dessen jüngste Ausstellung „Fake“ jetzt im Deutschen Hygiene- Museum Dresden eröffnet wird (14. Mai bis 5. März 2023).