© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 19/22 / 06. Mai 2022

Im Zwielicht des Halbmonds
Kino: Der iranische Spielfilm „Sun Children“ von Majid Majidi ist ein wundervolles Plädoyer für die Schulpflicht
Dietmar Mehrens

Als Ali sie wegen eines Festes anspricht, lenkt Zahra seinen Blick auf ihren Behälter mit Verkaufsartikeln und antwortet: „Guck mal, wie voll der noch ist. Die muß ich alle noch verkaufen!“ Zahra (Shamila Shirzad) ist ein Flüchtlingskind aus Afghanistan und die große Schwester von Abolfazl (Abolfazl Shirzad), einem von drei Freunden, mit denen der zwölfjährige Ali (Rouhollah Zamani) sich herumtreibt. Eigentlich müßten die Kinder ja zur Schule gehen. Doch sie haben Wichtigeres zu tun. Denn genau wie Zahra gehen Ali, Abolfazl, Mamad (Mohammad M. Mousavifar) und Reza (Mani Ghafouri) einer regelmäßigen Beschäftigung nach: Die vier Freunde helfen in einer Kfz-Werkstatt bei der Wiederverwertung von Altreifen.

Doch dann scheint es das Schicksal gut mit ihnen zu meinen: Ali wird von einem zwielichtigen Taubenzüchter, bei dem er in der Schuld steht, als Schatzsucher engagiert. Der Schatz ruhe in einer unterirdischen Gruft unter dem städtischen Friedhof. Ali müsse sich nur vom Keller einer nahe gelegenen Schule aus durchgraben und einen Gang finden. Der Junge und seine drei Freunde malen sich bereits aus, was sie mit dem vielen Geld anfangen könnten: Geschäfte eröffnen, der notorischen Armut entfliehen, Träume verwirklichen. 

Heerscharen verwöhnter Wohlstandskinder hierzulande

Die Schule, um die es geht, heißt „Schule zur Sonne“ und ist ein privat geführtes Sozialprojekt, das Unterprivilegierten Bildungschancen eröffnen soll. Mit beachtlicher Beredsamkeit und noch beachtlicherer Dreistigkeit erzwingen die vier Kinder ihre Aufnahme. 

Der iranische Regisseur Majid Majidi verabreicht seinem Film ganz in der Tradition seines britischen Kollegen Ken Loach einen kräftigen Schuß Sozialromantik, die gelegentlich dem Realismus, dem er sich ansonsten verschrieben hat, zuwiderläuft. Erstaunliche Talente kommen nämlich plötzlich zum Vorschein: Knirps Abolfazl entpuppt sich als kleines Mathe-Genie, und Reza wird für einen Profi-Fußballverein entdeckt. Sind solche Talente nicht das wahre Vermögen, das es zu entdecken gilt? Für Ali jedenfalls bleibt die Schatzsuche der treibende Motor des Schulbesuchs. Doch auch er hat nicht nur eigennützige Motive, will er doch mit dem Geld seine Mutter aus dem Krankenhaus holen, wo diese – buchstäblich – ans Bett gefesselt ist. 

Die vielen Hoffnungsschimmer, die Majidi in der ersten Filmhälfte immer kräftiger zum Strahlen bringt, drohen jäh wieder zu verlöschen: Die „Schule zur Sonne“ steckt finanziell in der Klemme, und das kindliche Quartett stößt bei seinen unterirdischen Grabungsarbeiten auf immer größere Widerstände und Gefahren. Spielt das Schicksal den vier hoffnungsvollen Freunden womöglich nur einen bösen Streich?

Dem gebürtigen Teheraner, vielfach preisgekrönt und bekannt geworden durch sensible Jugenddramen wie „Kinder des Himmels“ (1997) und „Die Farben des Paradieses“ (1999), ist abermals ein bewegendes Drama mit jugendlichen Hauptdarstellern gelungen. „Sun Children“ überzeugt nicht nur in der Figurenzeichnung, sondern gewährt auch authentische Einblicke in den Alltag der persischen Islamokratie, die Heranwachsenden vieles schuldig bleibt. Bezeichnend die Antworten der vier Jungen auf die Frage des Schulleiters nach ihren Vätern. Sie lauten: „Tja, er nimmt Drogen.“ – „Im Gefängnis.“ – „Weg.“ – „Tot.“

Man kann diesem emotional aufwühlenden Jugenddrama nur möglichst viele Schulvorführungen wünschen. So könnten den Heerscharen verwöhnter Wohlstandskinder hierzulande, die vorzugsweise freitags ihr Bildungsprivileg leichtfertig einer abstrakten Sorge um die Zukunft opfern, die Augen dafür geöffnet werden, auf was für einem hohen Roß sie sitzen: Während sie ausgerechnet durch Schuleschwänzen ihre Zukunft sichern zu müssen glauben, eröffnet Kindern in ärmeren Ländern bereits die Gegenwart keinerlei Perspektiven, weil ihnen etwas für uns so Selbstverständliches wie Schulbildung verwehrt ist.

Gleichermaßen empfiehlt sich der Kinobesuch den vielen egalitaristischen Neurotikern, die ausgerechnet im deutschen Grundgesetz Kinderrechte nicht genügend gewürdigt sehen und mit Framing-Begriffen wie „bildungsferner Haushalt“ die Segnungen westlicher Bildungsstandards in Abrede stellen, um ihre Klassenkampf-Agenda am Leben zu erhalten. Ihre Parolen wirken seltsam hohl in Anbetracht von 152 Millionen Minderjährigen, die weltweit zum Arbeiten gezwungen werden. Ihnen widmete Majidi seinen wundervollen Film über Kinderschicksale im Zwielicht des Halbmonds.

Kinostart ist am 5. Mai 2022

Foto: Ali (Rouhollah Zamani; 3.v.r.) und seine Freunde: Der Armut entfliehen, Träume verwirklichen