© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 19/22 / 06. Mai 2022

Die kranke deutsche Wirklichkeit
Importierter Antisemitismus: Die staatliche Machtstruktur hierzulande wird durch gewaltaffine Migranten herausgefordert
Thorsten Hinz

Der Verlauf, die polizeiliche Bearbeitung und die politisch-mediale Nachbereitung der pro-palästinensischen Demonstration vor zwei Wochen in Berlin-Neukölln sind aufschlußreich. Eines der Videos, die davon im Netz kursieren, zeigt den aufgebrachten arabischen Versammlungsleiter, der einem Journalisten einen Platzverweis erteilt. Den Aufzug dürfe er sich nur von hinten ansehen. Der Einsatzleiter der Polizei steht daneben und fragt den Betreffenden: „Haben Sie das verstanden?“ – „Natürlich hat er es verstanden!“ Punktsieg für die Demonstranten. – „So etwas habe ich in 25 Jahren Beobachtertätigkeit noch nie erlebt“, sagt Levi Salomon vom Jüdischen Forum. „Daß sich die Polizei solchen Forderungen eines Versammlungsleiters anschließt.“ Nicht bloß anschließt, sondern sie exekutiert.

Laut Berliner Versammlungsfreiheitsgesetz darf der Versammlungsleiter „Personen, die die Ordnung der Versammlung erheblich stören, aus der Versammlung ausschließen“. Das ist einerseits, wie man sieht, problematisch, unter Umständen aber angemessen. Zum Beispiel, wenn als Journalisten getarnte Aktivisten die Teilnehmer filmen und fotografieren, um sie an den digitalen Pranger zu stellen. Diese Praxis, weil sie sich vorzugsweise gegen „Rechte“ richtet, ist akzeptiert und gilt sogar als staatspolitisch wertvoll.

Das Existenzrecht des jüdischen Staates in Abrede gestellt

In Neukölln kam die Polizei den Demonstranten voll entgegen. An der konkreten „Ordnung der Versammlung“ kann es wohl kaum gelegen haben. Es ging ja nicht nur um öffentliche Kritik an der Politik Israels – die auf jeden Fall möglich sein muß –, sondern es wurde das Existenzrecht des jüdischen Staates in Abrede gestellt und Worte wie „Drecksjude“ gebrüllt. Es flogen Steine und Böller. Es hätte Gründe gegeben, den Demonstrationszug aufzulösen. Stattdessen wurde geduldet, daß Teilnehmer die Treppe des Rathauses besetzten, die Palästina-Fahne schwenkten und ihren Hamas-Führer hochleben ließen.

Ohne den geballten Einsatz des Springer-Verlags, dem von seinem Gründer eine dezidierte Pro-Israel-Haltung verordnet wurde, wäre die Demonstration wohl eine lokale Angelegenheit geblieben. Der Verlag war unmittelbar betroffen: Ein Bild-Journalist wurde körperlich attackiert und mußte von der Polizei geschützt werden. Insgesamt blieb die Resonanz jedoch begrenzt. Mehrere Politiker äußerten zwar Entsetzen und Empörung, doch das ist ein altbekanntes und folgenloses Ritual. Vermutlich haben sie es bereits als Fortschritt verbucht, daß diesmal nicht, wie bei früheren Gelegenheiten, „Juden ins Gas“ gerufen wurde.

Während die Polizei hier auf weiche Deeskalation setzte, ging sie in der Vergangenheit gegen  Querdenker-Demonstrationen, die sich gegen die Corona-Vorschriften wandten, mit einer Härte vor, die sogar den Sonderberichterstatter über Folter beim Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen, den Schweizer Rechtswissenschaftler Nils Melzer, auf den Plan rief. Nach Sichtung von Videos und Berichten sagte Melzer gegenüber der Tageszeitung Die Welt, zahlreiche Szenen zeigten exzessive Polizeigewalt. Ein Mann, der in Anwesenheit einer Gruppe von Polizisten auf einem Platz friedlich aus dem Grundgesetz vorlas und danach in aller Ruhe mit dem Fahrrad wegfahren wollte, wurde brutal zu Boden geworfen; zuvor hatte ein Beamter ihn von hinten mit dem Arm ins Genick geschlagen. Melzer: „Mir gegenüber erklärte die Bundesregierung diese Gewaltanwendung für gerechtfertigt, da der Mann mit seiner Rede weitere Demonstrationen hätte provozieren können.“ Ein derartiges Vorgehen wird von der Politik nicht nur gedeckt, sie hat die Polizei dazu animiert, indem sie „Demonstranten als Staatsfeinde dargestellt hat“.

Die Leitmedien beklatschen solche Übergriffe und feuern dazu an. Als im November 2020 in Berlin ein neuartiger Wasserwerfer zum Einsatz kam, titelte die Süddeutsche Zeitung zynisch: „Weine nicht, wenn der Regen fällt“, und zitierte eine Polizeisprecherin mit den Worten, es handele sich hier nur um eine vergleichsweise sanfte „Beregnung“. Drohend wurde hinzugefügt, man könne dem Wasser auch Tränengas beimischen. Beim Feuerwehrmagazin sah man die Verwendung der ursprünglich für die Feuerwehr entwickelten Geräte hingegen kritisch: „In der DDR ging damals auch die Feuerwehr plötzlich auf Demonstranten los.“

Es wirkte wie eine vorsätzliche Demütigung und Provokation der Demonstranten, wenn Polizisten mit dem Zollstock die Einhaltung des Anderthalb-Meter-Abstands penibel kontrollierten. Die böse Absicht trat deutlich hervor, als gleichzeitig beim regenbogenbeflaggten Christopher Street Day oder bei den „Fridays for Future“-Versammlungen die Verletzung der Maskenpflicht toleriert wurde oder die SPD-Bundestagsfraktion sich unmaskiert zum Gruppenbild versammelte. Auf Provokation angelegt war und ist auch das Verhalten von Journalisten, die wie die Geier die versammelten Maßnahmen-Kritiker umkreisen in der Erwartung, daß ein Spinner, Frustrierter oder Agent provocateur sich zu Äußerungen hinreißen läßt, die sich als extremistisch, verfassungs- oder judenfeindlich verwerten lassen.

Der Antisemitismus, der den Anti-Corona-Protesten krampfhaft angedichtet wird, ist auf Palästina-Demonstrationen mit Händen zu greifen. Warum die Unterschiede in der Behandlung, und wie hängt das eine mit dem anderen zusammen?

Der Staat ertüchtigt sich im Schattenboxen gegen Rechts

Den aktuellen Videos entnimmt man unschwer die aggressive Grundstimmung der jungen Männer arabischer Herkunft. Wo friedfertige, gesittete Spaziergänger sinnlos mit dem Grundgesetz herumfuchteln, stemmen sie herausfordernd die geballten Fäuste in die Hüfte. Der Einsatzleiter der Polizei muß also abwägen. Er hat zu berücksichtigen, daß bei einer ähnlichen Demonstration in Neukölln vor einem Jahr 93 Polizisten verletzt wurden. In seinem Hinterkopf sind die aktuellen Bilder von Migranten-Krawallen in Malmö und die Gefahr intifada-ähnlicher Ausschreitungen in Deutschland gegenwärtig. Er hat es nicht nur mit ein paar hundert Demonstranten, sondern mit einem großen Parallel- und Gegenmilieu zu tun. Der Psychologe und Autor Ahmad Mansour sagte, die palästinensischen Demonstranten würden weder von Trauma noch Diskriminierung oder Perspektivlosigkeit getrieben und hätten „auch keine biographische Nähe zu den Ereignissen“ in Palästina. „Es sind die Erziehungsmethoden, Religionsverständnisse, Bildung und Medien, die täglich daran arbeiten, diesen Haß weiter zu schüren.“ Der Einsatzleiter weiß auch, daß er von den Teilnehmern gefilmt und fotografiert wird. Er wäre nicht der erste Beamte, dem gedroht würde: „Ich weiß, wo dein Haus wohnt.“

So siegt die latente Gewaltdrohung schrittweise über die von der Polizei repräsentierte Staatsmacht. Natürlich kann der Staat, um seine Macht zu behaupten, Gewalt einsetzen, die „Staatsgewalt“ ist dann wörtlich zu nehmen. Im Falle der gewaltlosen Querdenker tun die Machthaber dies ja auch. Anders sieht es bei gewaltaffinen Migranten aus. „Wo Gewalt der Gewalt gegenübersteht, hat sich noch immer die Staatsgewalt als Sieger erwiesen. Aber diese an sich absolute Überlegenheit währt nur so lange, als die Machtstruktur des Staates intakt ist, das heißt solange Befehle befolgt werden und Polizei und Armee bereit sind, von ihren Waffen Gebrauch zu machen“, schreibt Hannah Arendt. 

Die staatliche Machtstruktur ist durch die Etablierung gewisser Einwanderer-Milieus defekt und im Umbau begriffen, was sich in der physischen und moralischen Überforderung der Polizei vor Ort widerspiegelt. Würde sie sich zu einer härteren Gangart gegenüber diesen Gruppen entschließen, würde sie umgehend von den Medien geprügelt werden und hätte von der Politik keinerlei Unterstützung zu erwarten. Im Gegenteil, die Politiker sind in Einschätzung der Verhältnisse, die sich unter ihrer Verantwortung herausgebildet haben, zu der Überzeugung gekommen, daß man sich mit den judenfeindlichen Milieus halt arrangieren muß. Das zeigt sich auch im inhaltsleeren Tweet der Innenministerin: „An antisemitische Beschimpfungen dürfen wir uns niemals gewöhnen – egal von wo und von wem sie kommen.“ 

Zum Arrangement gehört, das Problem auf keinen Fall beim Namen zu nennen. Kraft ihrer latenten Gewaltdrohung nehmen besagte Milieus indirekt und dennoch aktiv an der Neujustierung der diskursiven, politischen und rechtlichen Verhältnisse in Deutschland teil. Für Regierungskritiker hingegen setzt es Prügel, weil ihre Opposition den faulen Frieden, der auch auf ihre Kosten geschlossen wird, stören könnte. Das betrifft sowohl Kritiker der Corona-Maßnahmen als auch Aktivisten der Identitären Bewegung oder Kritiker des politischen Islam. Für die Polizei eröffnet sich dadurch ein Betätigungsfeld, auf dem sich ihr Gefühls- und Frustrationsstau entladen kann. Mit Billigung von Politik und Medien darf sie zuschlagen – und sie tut es. Polizisten sind schließlich auch nur Menschen.

Nun steht die behördliche Duldung von Judenhaß aber im eklatanten Widerspruch zum „Gründungsmythos Auschwitz“ und zur zivilreligiösen Staatsräson samt deutscher Reue- und Wiedergutmachungspflicht ohne Schlußstrich. In diesem Widerspruch entfaltet sich eine unheimliche Dialektik: Die Zivilreligion hat die politische Ratio und die Fähigkeit zum moralischen Selbsterhalt unterminiert. Unter dem Eindruck der politisch-mentalen Schwäche, die daraus folgte, konnte der importierte Antisemitismus zu einer mächtigen Kraft im öffentlichen Raum werden. Der Widerspruch wird zum Schein mit magischen Sündenbock-Ritualen aufgelöst: Der Staat ertüchtigt sich im Schattenboxen gegen Rechts; er läßt über 80- und 90jährige Unbelehrbare, die den Holocaust bestreiten, im Knast schmoren; er karrt Hundertjährige, die vor achtzig Jahren keine Möglichkeit, Kraft und Einsicht hatten, sich dem subalternen Dienst an falscher Stelle zu entziehen, in den Gerichtssaal, wo das Jugendstrafrecht ihnen dann gnädig ist.

Foto: Pro-Palästinensische Demo in Berlin (22. April): Aggressive Grundstimmung der jungen Männer arabischer Herkunft