© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 19/22 / 06. Mai 2022

Jung, jünger, TikTok
Unter den Social-Media-Diensten hat die chinesische App die jüngste Klientel
Eric Steinberg

Die Zeit von TikTok als Plattform, auf der sich lediglich belanglose Playback- und Tanzvideos finden, ist längst vorbei. Mittlerweile ist das Videoportal des chinesischen Unternehmens Bytedance zu einem gefragten Tool für die Verbreitung von Desinformationen und Propaganda aufgestiegen. Auch Inhalte zum Krieg in der Ukraine entsprechen nicht immer der Wahrheit. Bereits im März stellte das US-Startup „Newsguard“ fest: „TikTok liefert seinen Nutzern innerhalb von 40 Minuten nach der Anmeldung falsche und irreführende Inhalte über den Krieg in der Ukraine. Dabei spielt es keine Rolle, ob die Nutzer auf der Plattform konkret danach suchen oder nicht“, so das Unternehmen, das auch eine Browser-App bietet. Knapp zwei Monate später lassen sich in den Videovorschlägen noch immer zahlreiche pro-russische Inhalte finden. Vielsagende Accounts wie „allrusswaitforvictoryday“ oder „prorussia918“ sammeln Tausende Follower. 

Fake News von falschen Leichen und Ukrainern als Neonazis

Eine Fanpage für Wladimir Putin schafft es sogar auf knapp eine Million Follower und 13,4 Millionen „Gefällt mir“-Angaben. Die Accounts teilen Inhalte wie Aufmärsche russischer Soldaten, die mit patriotischer Musik untermalt werden, vorbeifahrende Panzer oder Artilleriefeuer. Wie selbstverständlich gehören auch anti-amerikanische und Nato-feindliche Postings zum Standard-Repertoire der Nutzer. Problematisch sind aber vor allem die verbreiteten Falschnachrichten: Dazu gehören unter anderem Videos von Fake-Leichen, die von ukrainischer Seite gezielt in der Stadt Butscha plaziert worden seien und der Mythos, Rußland befreie das Land und die Bevölkerung von Neonazis. Auch Inhalte, die bereits älter sind und nicht einmal aus dem aktuellen Krieg stammen, werden munter verbreitet. Sogar Filmsequenzen sind Bestandteil der Propaganda. 

Im Netzwerk lassen sich exakt die gleichen Falschnachrichten finden, wie sie auch von der Regierung selbst verkündet werden. Nicht wenige der kurzen Clips werden mit englischen Untertiteln versehen, so daß auch diejenigen, die kein Russisch verstehen, empfänglich für die Propaganda des Kremls bleiben. In Teilen der deutschen Rußland-Community, zu der immerhin etwa 3,5 Millionen Bürger gehören, dürften die Videos auf fruchtbaren Boden treffen. Wie der Deutschlandfunk vor drei Wochen berichtete, sei dort das Vertrauen in westliche Medien teilweise nur gering. „Das Mißtrauen in westliche Medien ist auch in Rußland weit verbreitet und eine wichtige Säule der russischen Propaganda“, zitiert der öffentlich-rechtliche Sender die Wissenschaftlerin Elizaveta Kuznetsova in dem Artikel. 

Für Unterstützer des Aggressors ist die Verbreitung von Desinformationen schwieriger geworden. Russische TikTok-Nutzer können mittlerweile keine eigenen Videos mehr hochladen. Großen Schutz vor Fehlinformation hat auch das nicht gebracht: Laut der Organisation Tracking Exposed nutzten einige Anwender ein Schlupfloch, um weiterhin zu posten. Anlaß für die Sperre des Unternehmens in Rußland war dabei ein Gesetzesbeschluß des Moskauer Parlamentes, das eine Verbreitung von „Fake News“ über die eigene Armee unter Strafe stellt. Bis zu 15 Jahre Haft sind bei einem Verstoß möglich, verboten ist seitdem auch die Verwendung der Worte „Krieg“ oder „Invasion“. Das Medium erklärte sich auf Twitter: „We have no choice but to suspend livestreaming and new content to our video service while we review the safety implications of this law“. Einzig die Nachrichtenfunktion des Dienstes ist von der Sperre nicht betroffen. Trotz der gesetzten Standards schafft es das chinesische Unternehmen nicht, Desinformationen erfolgreich zu bekämpfen. Auch wenn die Nutzung der Plattform erst ab 13 Jahren erlaubt ist: Problematisch bleibt dabei vor allem, daß auch Kinder und Jugendliche die Inhalte zu sehen bekommen, teilweise gewaltsame Szenen des Krieges. TikTok spricht besonders junge Nutzer an. In Deutschland sind 25 Prozent davon unter 20 Jahre alt. Das soziale Medium führte mit Blick auf seinen Leumund bereits im vergangenen Jahr eine Anti-Fake-News-Funktion ein: Wer einen Beitrag mit falschen Informationen teilt, bekommt dafür im Nachtrag einen Warnhinweis. Der Konzern verkündete sogar, in der Bekämpfung mit Anbietern wie der Deutschen Presse-Agentur (DPA), der Agence France-Presse oder Lead Stories zusammenzuarbeiten: „Wenn bestätigt wird, daß Inhalte falsch sind, entfernen wir diese von unserer Plattform und benachrichtigen den Creator. Wenn die Überprüfung der Fakten nicht schlüssig ist, beschränken wir die Verbreitung des Videos im Für-dich-Feed“, schreibt TikTok auf seiner Homepage.

TikTok ist für Putin unverzichtbar

Andere Plattformen wie Facebook, Twitter, Instagram und Netflix sind in Rußland schon seit längerer Zeit nicht mehr erreichbar. Zur Verbreitung der eigenen Propaganda ist TikTok für Putin jedoch unverzichtbar. Weltweit nutzen über 1,5 Milliarden Menschen das Kurzvideo-Tool. Gerade unter jungen Menschen ist es beliebt, um politische Inhalte zu konsumieren, auch zum Ukraine-Konflikt. Diese Popularität spiegelt sich auch in den Unternehmenszahlen wider. Wie die Agentur Reuters unter Berufung auf das Marktforschungsunternehmen Insider Intelligence berichtet, prognostiziert TikTok für 2022 einen Werbeumsatz von elf Milliarden US-Dollar, etwa doppelt soviel wie die Konkurrenten Twitter und Snapchat. Da der allergrößte Teil der Einnahmen in den Vereinigten Staaten generiert wird, ist der zwangsweise gesunkene Erfolg in Rußland nur ein geringer finanzieller Schaden. Ob sich jedoch ein Imageschaden für das Unternehmen durch die ständige Verbreitung von Falschinformationen bemerkbar machen wird, ist noch nicht absehbar. 

Foto: Der chinesische Betreiber der Kurzvideo-App TikTok, Bytedance, zielt auf die Jüngsten: Kriegsbilder aus der Ukraine zwischen lustigen Tanzvideos