© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 19/22 / 06. Mai 2022

Nachfolgelinien von Religion, Wissenschaft und Politik prägen das Abendland
Europas Bestimmung
Boris Preckwitz

Daß die Staaten Europas es vermochten, den Erdball über vier Jahrhunderte in Kolonialreiche aufzuteilen, ist der wirksamste Vorgang der Weltgeschichte. Nur die antiken griechischen Stadtstaaten und hellenischen Reiche kommen für einen Vergleich in Betracht: Eine kleinräumige Staatenwelt ortete und ordnete vielfach größere Gebiete fremder Völker und etablierte seine Leitkultur. Welche Bestimmung Europa in der zukünftigen multipolaren Weltordnung und in Zeiten der Globalisierung haben wird, ist eine Schicksalsfrage. Es zeigt sich sowohl am Beispiel Europas wie am aufstrebenden China, daß die gesellschaftliche und geopolitische Dynamik dort am größten ist, wo die Leistungen der Gegenwart das Erbe antiker Hochkulturen fortsetzen. Diese tiefenkulturelle Leistungsfähigkeit bietet allerdings keinen Grund für Kulturrelativismus, sondern spricht für einen begründeten Kulturpluralismus, in dem gerade die europäischen Staaten ihre Stärken erkennen und geltend machen können.

Für das Abendland sind es wesentlich drei Sukzessionslinien, die seit der Antike kulturbildend wirken und sich um die Welt verbreitet haben. Ihr Erfolg im Sakralen und Säkularen war so offensichtlich, daß Denker aller Epochen darin eine besondere Providenz, eine weltschöpferische Vorsehung erkannten.

Die ehrwürdigste Linie hat seit zweitausend Jahren einzigartig Bestand im Christentum. Sie begann mit den Worten Jesu: „Ich bin das Licht der Welt, wer mir nachfolgt, der wird nicht wandeln in der Finsternis, sondern wird das Licht des Lebens haben.“ Ineins mit dieser apostolischen Sukzession verläuft die pneumatische Sukzession, begründet in der Übertragung des Heiligen Geistes. Vom Pontifikalamt bis zum Pfingstprediger reicht der Regenbogen der Konfessionen – gemeinsam gilt ihnen die Imitatio Christi, die über die Blutzeugen zum Kreuz zurückführt. Es ist diese reinste Erscheinung der Nachfolge, die sich jeden Sonntag vollzieht. In der Liturgie und Eucharistie des Gottesdienstes lebt die Seele der christlichen Nachfolge.

Nicht nur die Kirchenämter wurden in eigener Tradition sukzessiv strukturiert, ebenso ganze Lehrbereiche der Theologie, darunter die platonisch inspirierte Patristik oder der aristotelische Thomismus. Mochte das weströmische Kaiserreich auch untergehen, die Nachkommen römischer Adelsfamilien wechselten aus den heidnischen Priesterschaften in die Hierarchie der Kirche und sorgten für eine Kontinuität von Reichsweltordnung. Bischöfe vom Alpenraum bis zum Atlas übernahmen Provinzialverwaltungen, wo Roms Legionen den Wanderungen germanischer Völker nicht mehr gewachsen waren. In jener Zeitenwende verfaßte Augustinus sein Werk über die „Gottesbürgerschaft“ und übertrug darin das Konzept der providentia, der göttlichen Vorsehung, auf das Kommen und Gehen irdischer Mächte. Eine Weltgeschichte nach dem Plan Gottes bis zum Eintritt der Menschheit in das himmlische Reich. Als Augustinus sein Werk vollendet hatte, nahmen die Vandalen seine Stadt ein.

Das noch ältere Sukzessionssystem des Westens – das Denken in Folgerungen als solches – ist dasjenige der Wissenschaft. So sehr die moderne Wissenschaft für das Weltbild des Abendlandes steht, so hell erschienen Sternkunde und Heilkunde, Mathematik, Technik, Recht und Ökonomie bereits im Morgenlicht der mesopotamischen Bronzezeit. Später beförderten die Vorsokratiker die Entstehung der Natur-, Gesellschafts- und Geisteswissenschaften als eigene Denkdisziplinen. Wissenserwerb erfolgte in Philosophenschulen, in denen Hypothesen aus allen Himmelsrichtungen Aufnahme fanden und ausstrahlten. In den Werken Platons und der Stoiker wurde erstmals (unter dem griechischen Begriff der pronoia) das Prinzip der Providenz erdacht, als göttliche Vorbestimmung und Lenkung des Weltenlaufes. So konnten selbst Bibliotheksbrände und Bücherverbote das deduktive und dialektische Denken nicht mehr aufhalten.

Wiederholt begannen Wissenssammlungen in klösterlichen Scriptorien der Spätantike und in theologischen Kollegien des Mittelalters; Gelehrte verstetigten das bekannte Weltwissen in Chroniken und Enzyklopädien. Der Bestandserhalt des Wissenschaftsbetriebs folgte aus dem Umstand, daß Erkenntnis sowohl persönlich von Lehrern zu Schülern weitergegeben wird, als auch schriftlich Raum und Zeit überwindet. Seit der europäischen Renaissance versichert sich das Denken immer wieder seiner Ursprünge, bricht auf zu neuen Wissensgebieten, versucht zu bewahrheiten oder zu falsifizieren. Experimentelle Forschung und Entwicklung ermöglichen prognostische Forschungsdesigns, Patentlösungen, Projektstrukturpläne und Produktionsketten, komplexe algorithmische Programmierungen, alle Technologien, die unsere Wirtschaft und Lebenssysteme fortwährend in Betrieb halten.

Ebenso irdischen Ursprungs ist die dritte Sukzessionslinie, die Politik. Über Jahrtausende hinweg legitimierten sich königliche Dynastien durch die Verschmelzung von Aura des Amtes und Charisma des Amtsträgers. Als Gesalbte von Gottes Gnaden galten die Monarchen als Garanten für den Fortbestand von Himmel und Erde, gestützt durch erneuerungsfähige Eliten in Verwaltung, Militär und Religion. In der Geschichte mancher Reiche wurde ein nachfolgeloser Zustand zum geschichtslosen – zum Sturz einer Gesellschaft ins Nichts.

Die Gründe, warum Staaten scheitern, ob durch zwischenstaatliche Übergriffe oder innergesellschaftliche Übergriffigkeit, sind vielfältig. Aber ein Zusammenhang ist ersichtlich: Wo Sukzession und politische Regeneration unterbleiben, folgt gesellschaftliche Rückentwicklung. Dabei ist das Versagen eines Teilsystems meist noch zu restaurieren, erst die Schrägneigung mehrerer tragender Säulen führt zum Sturz eines Staates oder schlimmstenfalls zum Untergang einer ganzen Kultur. Dem Verlust von Sukzessionslinien geht nur selten ein einzelnes Ereignis voraus. Eher sind es schleichende Zerfallsprozesse, geistige Verflüchtigung, langfristige Schädigungen der Stabilität.

Ab dem sechsten vorchristlichen Jahrhundert erwuchsen in Athen und Rom die ersten demokratischen und republikanischen Staatsordnungen – Elektoratsversammlungen, Verfassungsorgane und befristete Ämter. Die große geschichtliche Leistung des demokratischen Staates bestand darin, das Sukzessionsprinzip von einer kleinen Herrschaftsschicht auf die breite Basis des gesamten Staatsvolks und auf seine Institutionen zu übertragen. Vor politischer Willkür und Scheitern sind jedoch auch die Demokratien nicht gefeit.

Seit ihren Anfängen bewirkt Demokratie nicht nur Parteikämpfe bis hin zum Bürgerkrieg, ihre Klüngel hintertreiben die Ernennung fachkundiger Amtsträger, unterbinden gar die Regenerationsfähigkeit einer Regierung. Gleich dreimal geschah dies in der noch allzu jungen Geschichte der Bundesrepublik Deutschland durch überlange Amtszeiten von Unions-Kanzlern. Daß in einem politischen Wahlamt eine Person über mehrere Legislaturen sich selbst nachfolgt, ist als Schwundstufe politischer Sukzession zu betrachten. Die scheinbare Stabilität erweist sich als verdeckte Auszehrung einer Partei und als Verfall im politischen System. Aus gutem Grund ist Demokratie auf Wahl hin verfaßt – Wahlen sind dem Sinne nach ein absichtlich herbeigeführter, synthetischer Sukzessionsmechanismus, um anverwandelnd oder abwehrend gesellschaftliche Veränderungen bewältigen zu können.

Eine Sternstunde des Abendlandes, in der die Sukzessionslinien von Glaube, Geist und europäischer Staatsverfassung an einem Ort vereint waren, ereignete sich im damaligen Jahre 2 nach der 207. Olympiade, nach heutiger Zeitrechnung 50 n. Chr.: Die Bürgerschaft Athens bemerkte in jenen Tagen einen unbekannten Gelehrten, angereist aus Tarsos, einer rühmlichen Lehrstätte auf der kleinasiatischen Seite der See. Der Mann, der sich Paulus nannte, verhielt sich wie einst ein Sokrates – wanderte über den Markt, hantierte mit philosophischen Begriffen und verkündete eine neue Gottheit. Grund genug für die örtlichen Philosophen, Stoiker und Epikureer, den Mann zu einer Anhörung an den Platz der Ratsversammlung zu laden. In seiner Areopag-Rede beschrieb Paulus eine von Gott vorgesehene Weltordnung, wie sie den Stoikern vertraut sein mußte: „Erschaffen hat er aus dem ersten Menschen das Menschengeschlecht, als Bewohner der ganzen Fläche der Erde. Er hat für sie bestimmt ihre Zeitgültigkeiten und die Grenzen ihrer Siedlungsgebiete.“

Was in der Aussage des Paulus als Idee der weltschöpferischen Providenz in den Raum gestellt, von späteren Denkern wie Augustinus fortgedacht wurde, erwies sich als prägende Vorstellung der westlichen Religionsgeschichte über das Mittelalter hinweg bis in die Staatsphilosophie der Neuzeit. Noch bei Kant erscheint die Vorsehung in der Schrift „Zum ewigen Frieden“ als „tiefliegende Weisheit einer höheren, auf den objektiven Endzweck des menschlichen Geschlechts gerichteten und diesen Weltlauf prädeterminierenden Ursache“; von Weltgeist wiederum sollte Hegel sprechen.

Was bedeuten heute die systemische Macht Chinas, die durchgreifende Islamisierung des Nahen Ostens, die Flüchtlingsströme, der wachsende Bevölkerungsüberschuß Afrikas für die Zukunft Europas? Vermutlich müssen alle Ansprüche an die Universalisierbarkeit von Menschenrechten zurückverwiesen werden auf die völkerrechtliche Ebene der Nationalstaaten, weil jeder Bürger einer Gesellschaft seine Rechtsforderungen ausschließlich an die eigene Regierung zu richten und im eigenen Land zu erkämpfen hat.

Grundsätzlich müssen Demokratien überlebensnotwendig dafür sorgen, gesellschaftliche Desintegration zu verhindern, weil deren soziale Folgekosten ein Gemeinwesen langfristig zerrütten. Aus Gründen der eigenen Souveränität und Subsidiarität bedürfen Demokratien auch zwingend einer nach außen abgrenzbaren Nationalstaatlichkeit, die eine unverletzliche Rechtsordnung im Inneren absichert. Die Rechtstaatlichkeit in Europa begründete ihr eigenes Fortwirken, als das römische Recht nach den Völkerwanderungen mit dem Gewohnheitsrecht germanischer Stämme zusammengedacht wurde – die Gesetzbücher der Goten, Burgunden und Franken umfaßten herrscherliches Staatsrecht, Kirchenrecht, Eigentums- und Strafrecht. Die sich ausweitende Rechtssicherheit schuf die Grundlagen der späteren europäischen Zivilgesellschaften.

Der Westen, das legen die Erfahrungen der vergangenen Jahre nahe, kann sein Wissen anderen Weltregionen zum Nachvollzug und zur Entwicklung anbieten, aber kaum mit militärischen Interventionen oder „soft power“ dorthin verpflanzen. Was Europa aus seiner politischen Geschichte heraus der Welt anbieten kann, ist das Modell von Gesellschaften freier Bürger in eigenständigen Staaten. Ihre Providenz ist ein „Soll-so-sein“, das rückwirkend die Erwünschtheit ihres gegenwärtigen gesellschaftlichen Zustandes bezeugt und zukunftswirksam als ein anzustrebendes Geschehen beglaubigt.

Auch zum eigenen Schutz: Europa handelt über sein Vermögen, und es zerstört sich selbst, wenn es versucht, Kulturen und Wertsysteme zu integrieren, die im Widerspruch zu den eigenen europäischen Sukzessionslinien stehen. Vorsehung bedeutet auch eine auf sich selbst gerichtete Vorsicht und Vorsorge. Für die europäischen Staaten hat ein Zeitalter der Selbstwahrung begonnen.






Boris Preckwitz, Jahrgang 1968, arbeitet im Marketing und der PR. Er studierte Literaturwissenschaft in Göttingen und Hamburg sowie Management in Berlin. Er veröffentlichte Essays, Lyrik und Dramen und wurde mit Autorenpreisen ausgezeichnet. Heute lebt er in Hannover, wo er ein kulturpolitisches Debattenforum vorbereitet, die August W. Rehberg-Gesellschaft.

Foto: Francisco Laporta Valor (1849–1914), „Paulus in Athen“: In dieser Sternstunde des Abendlandes waren die Sukzessionslinien von Glaube, Geist und europäischer Staatsverfassung an einem Ort vereint