© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 19/22 / 06. Mai 2022

Der Kaiser schützt den Markt
Preußen-Deutschlands Weg vom Agrarstaat zum modernen Kapitalismus im 19. Jahrhundert: Wirtschaftlicher Aufstieg und sozialer Fortschritt dank blockierter Demokratisierung
Oliver Busch

Seit der Jahrtausendwende steht das Verhältnis von Demokratie und Kapitalismus auf dem Prüfstand. Weil die These an Zuspruch gewinnt, der globalisierte Turbokapitalismus habe für alle demokratisch verfaßten Nationalstaaten das Zeitalter der „Postdemokratie“ eingeläutet. Nicht mehr Parlamente, sondern Märkte würden die Richtlinien der Politik bestimmen. 

Gegen diese pessimistische Auffassung verfechten anglo-amerikanische Ökonomen nun wieder die reine Hayek-Lehre, wenn sie an historischen Beispielen zu zeigen versuchen, daß sich Demokratie und Kapitalismus niemals entkoppeln ließen, da der offene Wettbewerb das ihnen gemeinsame Strukturprinzip sei. So wie eine wettbewerbliche Ökonomie allen Gesellschaftsmitgliedern die Teilnahme am Einkommenserwerb offenhalte, so öffne die Demokratie den Wettbewerb um politische Herrschaft. Wettbewerbsoffenheit schlösse in Politik wie Wirtschaft also gleichermaßen aus, daß sich eine Elite aufgrund tradierter Macht Privilegien sichern und bewahren könne. Woraus im Umkehrschluß folgt, daß nur undemokratische politische Ordnungen anfällig für eine wettbewerbsfeindliche Wirtschaftspolitik sind.

In der Tat, so räumt der Wirtschaftswissenschaftler Gerhard Wegner (Universität Erfurt) in seiner Studie über „Kapitalistische Transformation und Strukturwandel politischer Herrschaft im Deutschland des ‘langen neunzehnten Jahrhunderts’“ (Leviathan, 1/2022) ein, scheinen jüngere Untersuchungen für viele Staaten seit Beginn der Industrialisierung eine gleichlaufende Entwicklung zwischen ökonomischer und politischer Freiheit nachzuweisen. Nur in Deutschland sei die Liberalisierung auf beiden Feldern ungleichzeitig verlaufen. Bei genauerem Hinsehen halte diese „Koinzidenzthese“ aber nicht stand. So werde das vor den USA und Frankreich am häufigsten bemühte Beispiel Großbritanniens regelrecht „geschönt“, um zu verdecken, daß die Demokratie dort der kapitalistischen Liberalisierung hinterherhinkte. In der englischen „Elitendemokratie“ fand erst 1832 eine Parlamentsreform statt, als die industrielle Revolution bereits weit fortgeschritten war. Auch aufgrund späterer Reformen konnten bis zum Ersten Weltkrieg nur 60 Prozent der britischen Männer wählen, während das demokratisch nicht legitimierte Oberhaus noch bis 1911 ein Vetorecht gegen das Unterhaus besaß.   

Es mute wie eine bizarre wirtschaftshistorische Wiederbelebung des geschichtspolitischen Ideologems vom „deutschen Sonderweg“ an, wenn im Kontrast zur vermeintlichen britischen Musterdemokratie Preußen-Deutschland das Etikett limited access order (Ordnung mit begrenztem Zugang) angeheftet wird. Womit Autoren wie Douglas C. North und Barry Weingast noch 2009 auf den Spuren von Liberalen wie Friedrich August von Hayek und Ludwig von Mises wandeln, deren Sicht auf die deutsche Geschichte vom (verständlichen) Ressentiment beider Emigranten getrübt war. Das sie dazu verleitete, Bismarcks Sozial- und Zollgesetzgebung als Einstieg in den Interventionsstaat zu brandmarken, der ein Vorläufer jenes „totalen“ NS-Staates gewesen sei, der die Marktökonomie des wettbewerblichen Kapitalismus gründlich ruiniert habe.

Freier Markt, unabhängige Justiz und korruptionsfreie Verwaltung

Wer das wilhelminische Deutschland als „Ordnung mit begrenztem Zugang“ einstufe, kommt für Wegner jedoch schnell in Erklärungsnot, wenn er auf die Frage antworten soll, wie es möglich war, daß sich auf dessen Territorium innerhalb von 100 Jahren eine von absolutistisch-agrarischer Rückständigkeit geprägte Wirtschaft zum Zentrum des modernen Kapitalismus entwickelte. Habe doch das Kaiserreich in allen bedeutenden Wirtschaftszweigen eine technologische Führungsrolle gespielt. Wegen seiner in dieser Zeit geschaffenen institutionellen, rechtlichen Voraussetzungen für das Gedeihen einer kapitalistischen Wettbewerbsgesellschaft, wegen seiner Spitzenleistungen in Wissenschaft und Technik, bahnbrechender Innovationen in der chemischen und elektrotechnischen Industrie sowie aufgrund staatlich üppig finanzierter Grundlagenforschung zählte die deutsche Volkswirtschaft hinter der amerikanischen „zu den dynamistischen der Welt“. Die, neben der Schweiz, auch das höchste Pro-Kopf-Wirtschaftswachstum in Europa aufwies. Ohne den verheerenden Ersten Weltkrieg, hier wagt Wegner einen Seitensprung in die kontrafaktische Geschichtsschreibung, „wäre ein weiterer substanzieller Wohlstandsanstieg auch der unteren Klassen in greifbarer Nähe gewesen“. Die soziale Frage, die Jahrhundertfrage – ohne die „Urkatastrophe“ (George F. Kennan) von 1914/18 wäre sie in Deutschland gelöst worden!

Es sei auf der Basis der „Sonderwegthese“ völlig unerklärlich, wie eine solche Modernisierungsleistung unter restriktiven ökonomischen und politischen Institutionen hätte zustande kommen können. Dieses Phänomen verstehe allein, wer sich von der schematischen Vorstellung einer gesetzmäßigen Synchronie zwischen demokratischer und kapitalistischer Entwicklung verabschiede. Dabei könne das Studium der drei wichtigsten Reformphasen im Prozeß der kapitalistischen Transformation der deutschen Wirtschaft und Gesellschaft hilfreich sein: 

Erstens die Stein-Hardenbergschen Reformen, zweitens der enorme Liberalisierungsschub im Verlauf der gescheiterten Revolution von 1848 und drittens die Reformphase des Norddeutschen Bundes, die unmittelbar vor der Reichsgründung von 1871 einen „liberalen Musterstaat“ schuf, dessen institutionelle Reformen, vom allgemeinen Männerwahlrecht über die allgemeine Gewerbefreiheit bis zum Handels- und Wechselrecht, das Kaiserreich als wertvolle „Mitgift“ übernahm. Sogar ein Hans-Ulrich Wehler geriet ins Schwärmen angesichts dieser „glanzvollen Reformzeit, in der bis heute tragende Fundamente der bürgerlichen Wirtschaftsgesellschaft und der modernen Staatsbürgergesellschaft gelegt wurden“. 

So gab es nur in dieser kurzen Phase, von 1867 bis 1871, einen Gleichlauf von Demokratie und Kapitalismus, während bis dahin und fast vier Jahrzehnte danach die 1807 und 1848 „blockierte Demokratisierung“, der Mangel an politischer Partizipation auf staatlicher Ebene (Dreiklassenwahlrecht in Preußen) – bei gleichzeitig sich weitenden Räumen für „zivilgesellschaftliches“ Engagement –, der wirtschaftlichen Liberalisierung sehr förderlich gewesen sei. Hätten 1848 radikale Demokraten obsiegt, wäre die „große Transformation“ in dieser Epoche wohl ausgebremst worden. Immerhin neigte die demokratische Mehrheit der arbeitenden Klassen zur Maschinenstürmerei und hoffte, die Rückkehr zur Ständeordnung könnte sie vor dem rauhen Wind des „freien Marktes“ schützen. Ebenso sei die kupierte Parlamentarisierung des Kaiserreichs „durchaus funktional“ gewesen. Sie setzte die Reichsleitung anstelle des Reichstags unter Druck, eine demokratische Wirtschaftspolitik zu treiben, die den Interessenausgleich zwischen Industriellen, Agrariern, urbanen Mittelschichten und der Arbeiterklasse optimal moderierte. 

Doch ebensowenig wie durch den „Beamtenliberalismus“ der drei Reformphasen realisierte sich im Kaiserreich mit der Macht der Regierungsbürokratie ein „staatlich gelenkter Kapitalismus“. Auch kein „Klassenstaat der ‘Junker’, Banker und Schlotbarone“. Die preußisch-deutsche Wirtschaftsordnung unterscheide sich daher grundsätzlich von der politischen Ökonomie autoritärer Systeme der Gegenwart wie etwa dem Chinas: durch freien, nicht an die Nähe politischer Herrschaft gebundenen Marktzugang, durch ein Höchstmaß an Rechtsstaatlichkeit, eine unabhängige Justiz und weitgehend korruptionsfreie Verwaltung.

 www.leviathan.nomos.de

Foto: Adoph von Menzel, Das Eisenwalzwerk (im oberschlesischen Königshütte), Öl auf Leinwand 1875: Innerhalb von hundert Jahren wandelte sich Deutschland aus absolutistisch-agrarischer Rückständigkeit zu einer in allen bedeutenden Wirtschaftszweigen eine technologische Führungsrolle spielenden Gesellschaft