© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 19/22 / 06. Mai 2022

Wiederbelebung eines Despoten
Martin van Creveld hat eine semifiktionale Autobiographie vorgelegt, in der Josef Stalin sein Leben Revue passieren läßt. Und das ohne Reue und Mitleid
Martin Wagener

Stalin gehört zu den größten Verbrechern des 20. Jahrhunderts. Nach dem Ableben von Wladimir Iljitsch Lenin 1924 war es ihm gelungen, seine Konkurrenten aus dem Feld zu drängen. Anschließend errichtete er eine Alleinherrschaft ungekannten Ausmaßes. Entstanden war ein Terrorsystem, dem laut Schätzungen bis zu zwanzig Millionen Menschen zum Opfer gefallen sein sollen – ob in innenpolitischen Säuberungswellen oder infolge des Holodomor („Tötung durch Hunger“) in der Ukraine.

Was hat Jossif Wissarionowitsch Dschugaschwili – so der Geburtsname Stalins – veranlaßt, ohne Zögern über das Schicksal so vieler seiner Landsleute zu richten? Antworten finden sich im neuen Buch Martin van Crevelds, der dem Kreml-Chef für ein ausführliches Selbstgespräch neues Leben eingehaucht hat. Er läßt Stalin munter aus dem Nähkästchen plaudern: über Freund und Feind, Innen- und Außenpolitik, von der Kindheit bis zum Tod 1953. Dabei bleibt es dem Leser überlassen, Rückschlüsse aus diesem niedergeschriebenen Monolog zu ziehen, um den Despoten besser zu verstehen. Van Creveld selbst nimmt keine direkten Bewertungen vor.

Stalin hegte ein grundsätzliches Mißtrauen gegen Menschen

Besonders interessant sind jene Passagen, in denen Stalins Realitätsverweigerung, Verachtung und Ignoranz erkennbar werden. Daß Lenin vor ihm in seinem – authentischen? – Testament gewarnt hat, weist er schon aus Bewunderung für seinen politischen Ziehvater zurück. Er selbst habe schließlich nur Gutes im Sinn gehabt: „Being who I am, the last thing I had in mind was to set up a dictatorship.“ Weiter heißt es: „[…] I was no tyrant.“ In Richtung Widersacher Leo Trotzki teilt Stalin dennoch kräftig aus („pain in the ass“). Überall sieht er Mächte wirken, deren Einfluß er beklagt – vor allem jenen der Juden („[l]ike flies, they were everywhere“). 

Viele Aussagen wirken zynisch, wenngleich sie vielleicht auch auf kognitive Dissonanz zurückgeführt werden können. Etwa jene, daß zur Ausübung von Macht gar nicht zuvörderst auf Terror, sondern auf Erziehung gesetzt worden sei. Teilweise erinnern die Gedankengänge Stalins an die „Banalität des Bösen“ im Sinne Hannah Arendts. So werden Todesurteile oder Umsiedlungen eher beiläufig erwähnt, als ob nach ein wenig Milch zum Kaffee gefragt wird. 

Abgesehen von persönlichen Charakterzügen, die seine Neigung zur Brutalität erklären, werden weitere Motivgrundlagen deutlich. Wer sich in einem Unrechtsstaat an der Macht halten will, muß aufpassen, nicht der Willkür der eigenen Gegner zum Opfer zu fallen. Stalin dürfte daraus geschlußfolgert haben, möglichst viele mutmaßliche Opponenten auszuschalten. Mehr Tote, mehr persönliche Sicherheit – so das Kalkül. Die zahlreichen Verbrechen lassen sich zudem aus der Sicht des Täters über ein deterministisches Geschichtsbild rechtfertigen: als Mittel zur Erfüllung einer historischen Mission, die Kommunisten über den dialektischen Materialismus ableiten. Mit van Creveld gesprochen, nennt der gebürtige Georgier dies „Klassenräson“.

Stalin schottete sich zum Selbstschutz ab – aus Angst vor den Menschen, denen er grundsätzlich mißtraute. Daher dürften nur wenige Berater Einfluß auf ihn gehabt haben. Dieser Wesenszug sollte sich auch bei künftigen Herren im Kreml zeigen, deren steinernes Weltbild wenig Raum für Kompromisse ermöglichte.

Der Mehrwert der Ausführungen van Crevelds liegt dort, wo er den Leser ermuntert, sich in Stalin hineinzuversetzen, um ihn besser zu verstehen: Das gesamte Buch ist aus der Ich-Perspektive geschrieben worden. Semifiktional ist es insofern, als der Autor zwar die historischen Tatsachen korrekt wiedergibt, diese aber Stalin bewerten läßt – was naturgemäß zu Verzerrungen führt. Insofern setzt die Abhandlung ein wenig Vorwissen voraus, um der angenommenen Sichtweise des „Stählernen“ nicht auf den Leim zu gehen. Martin van Creveld hat im Stil von „I, Stalin“ bereits zuvor eine ähnliche Schrift vorgelegt. 2018 war sein Buch „Hitler in Hell: Was er noch zu sagen hätte …“ erschienen. Das war durchaus gewagt, denn der Verfasser ist Jude und Staatsbürger Israels. Dennoch hinderte ihn dies nicht daran, sich in Hitler hineinzuversetzen, wie er in einem eigenen Nachwort schreibt: „Ich habe die Methode gewählt, so weit wie nur möglich in seine Haut zu schlüpfen, um zu verstehen, was ihn antrieb.“ Er nennt diese Vorgehensweise „alternative Geschichtsschreibung“, die darauf abziele, „die subjektive Wahrheit zu enthüllen, so wie sie in den Augen eines einzigen Menschen aussah“. In „I, Stalin“ geht er ähnlich vor. Beide Bücher sind ihm bestens gelungen.






Prof. Dr. Martin Wagener lehrt Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Internationale Politik und Sicherheitspolitik an der Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung in Berlin. Er hat das Buch in Folge 18 seines Podcasts verarbeitet („Putin und Stalin: Wie die Herrscher im Kreml denken“).

 www.youtube.com/watch?v=55qpOn0fq6c

Martin van Creveld: I, Stalin. Eigenverlag, Mevasseret Zion 2022, broschiert, 382 Seiten, 13,71 Euro

Foto: Russin betrachtet Stalin-Vase in einem Moskauer Museum, Mai 2010: Wie auch bei späteren Herren im Kreml dürften nur wenige Menschen Einfluß auf den Diktator gehabt haben