© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 20/22 / 13. Mai 2022

O wie schön ist Jamaika?
Landtagswahl I: Union und SPD liefern sich ein Kopf-an-Kopf-Rennen / Grüne stark
Karsten Mark

In Kevelaer, dem kleinen Wallfahrtsstädtchen am Niederrhein, ist bei der CDU die Welt noch in Ordnung. „Wie schön: Keine Trillerpfeifen, keine Störer“, freut sich der nord-

rhein-westfälische Ministerpräsident Hendrik Wüst, als er zur Wahlkampfveranstaltung im Solegarten eintrifft. Denn solche hatten ihm erst sechs Tage zuvor im sauerländischen Olpe penetrant in den Ohren gelegen – bei einem gemeinsamen Auftritt mit seinem bayrischen Amtskollegen und CSU-Chef Markus Söder sowie mit Friedrich Merz, der im Sauerland zu Hause ist. 

Es war eine – zumindest optisch – gelungene Inszenierung dreier großgewachsener Männer, die sich als tatkräftige Macher, als die neuen starken Konservativen der Nach-Merkel-Union auf der Bühne positionieren wollten. Wären da nicht die etwa 50 Protestler auf den Marktplatz gekommen, die ausdauernd in ihre Trillerpfeifen und Vuvuzela-Tröten bliesen und die Redner akustisch damit niederwalzten. Der Protest richtete sich gegen deutsche Waffenlieferungen an die Ukraine, aber auch gegen die Corona-Politik, weshalb die Demonstranten von der Polizei der Querdenker-Szene zugeordnet wurden.

Solcher Protest ist im derzeitigen Wahlkampf allgegenwärtig, zumindest sobald bundespolitische Prominenz auftritt. SPD-Kanzler Olaf Scholz mußte das bei seiner Ansprache zum 1. Mai beim DGB in Düsseldorf ebenso erfahren wie seine grüne Außenministerin Annalena Baerbock, die eine Woche später in Wuppertal gar mit Eiern beworfen wurde. Es waren offensichtlich nicht immer nur Querdenker, die da demonstrierten. Gegen Scholz richteten sich etwa auch bekennende Anhänger der stalinistischen Splitterpartei MLPD. 

Dem Ministerpräsidenten haftet das Schnösel-Image an

Mit Hendrik Wüst allerdings haben die Gegner der Corona-Restriktionen noch ein ganz besonderes Hühnchen zu rupfen: Wüst profilierte sich, unmittelbar nachdem er Ende Oktober das Amt von seinem als Kanzlerkandidat gescheiterten Vorgänger Armin Laschet übernommen hatte, als strenger Corona-Sheriff nach Söderschem Vorbild, der in einer Fernseh-Talkshow gar durch gehässige Drohungen gegen „Ungeimpfte“ auffiel. Wenigstens  fiel er einem breiten Publikum auf. Und er nahm seine Chance wahr, sich als gerade amtierender Vorsitzender der Ministerpräsidentenkonferenz auch bundesweit einen Namen zu machen. 

Ganz nebenbei konnte sich Wüst, der vom Sessel des Verkehrsministers in die Düsseldorfer Staatskanzlei wechselte, noch von seinem Vorgänger, dem in Corona-Fragen eher liberal agierenden Laschet, absetzen. Es war das einzige Thema, mit dem Wüst auch in seinem eigenen Bundesland wirklich in Erinnerung geblieben ist. Die Mallorca-Affäre, in die drei seiner Minister verstrickt waren, perlte an ihm persönlich weitgehend ab.

Immerhin ist Wüsts Name nun spürbar bekannter als der seines Herausforderers Thomas Kutschaty. Der war auch schon einmal Minister, nämlich Justizminister im Kabinett von Hannelore Kraft, ganze sieben Jahre lang bis 2017. Im Straßenwahlkampf ist der recht klein gewachsene, aber sehr drahtig wirkende Kutschaty keine so auffällige Erscheinung. Doch in seiner Heimat, dem Ruhrgebiet, hat der linke Sozialdemokrat durchaus seine Fans. 

Kutschaty verkörpert den Gegenentwurf zu Hendrik Wüst, dem immer noch das einst von ihm selbst gepflegte Schnösel-Image nachhängt, was mit seiner beruflichen Vergangenheit als Lobbyist, aber auch mit der Sponsoren-Affäre zusammenhängt, die ihn Anfang 2010, während der Amtszeit von Jürgen Rüttgers, den Posten des Generalsekretärs kostete. Seinerzeit gerierte sich Wüst noch als junger, ehrgeiziger Konservativer, der sich unter anderen mit Markus Söder im „Einstein-Kreis“ zusammensetzte, um einen Gegenentwurf gegen den Merkel-Kurs der Union zu verfassen.

Ein Jahrzehnt später redet Wüst beim Wahlkampftermin in Kevelaer über grünen Wasserstoff, der die Wirtschaft aus der Abhängigkeit von russischem Erdgas führen könnte, über Windkraftanlagen und „eine neue Balance mit dem Artenschutz“, sprich: weniger gesetzliche Hindernisse für den Zubau neuer Windräder. Auch für zusätzliche, wesentlich größere Solardächer als bisher plädiert der Ministerpräsident. Diese neuen Akzente weisen überdeutlich darauf hin, daß Wüst, der in den Umfragen mit 30 Prozent nur sehr knapp vor seinem SPD-Herausforderer (28 Prozent) liegt, seinen nächsten Koalitionspartner nicht mehr wie bislang in der FDP sieht. Mit den Liberalen wird es aller Voraussicht nach der Wahl am kommenden Sonntag nicht mehr reichen. Sie liegen in Umfragen nur noch bei sieben Prozent. Die Grünen hingegen könnten laut jüngsten Umfrage zweistellig zulegen. 

Ob derart erstarkte Grüne allerdings noch Interesse an einer schwarz-grünen Koalition hätten, ist fraglich. Zumal sich Rot und Grün in NRW traditionell sehr nahestehen. So könnte der so auffällig unspektakulär vor sich hinplätschernde Wahlkampf der FDP unter seinem wenig charismatischen Vorsitzenden Joachim Stamp, dem derzeitigen Familien- und Integrationsminister, auch darauf hindeuten, daß sich die Liberalen auf eine neue Rolle als Zünglein an der Waage in einer zukünftigen Ampel vorbereiten. Wüst wäre dann der Ministerpräsident mit der kürzesten Amtszeit in der Geschichte Nordrhein-Westfalens. 

Foto: Ministerpräsident Wüst mit Fans aus der Jungen Union: Einst im Widerspruch zum Merkel-Kurs der CDU