© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 20/22 / 13. Mai 2022

Zwischen Reichstag und Kanzleramt
Blau tauscht mit Grün
Christian Vollradt

Die Bundestagswahl ist schon über ein halbes Jahr her, aber dennoch sind noch nicht alle Aspekte der bedeutenden Frage „wer sitzt wo?“ geklärt. Zwar hat im Plenarsaal die neue Sitzordnung Einzug gehalten, und für schlappe 36.000 Euro Steuermittel wurde auf Wunsch der FDP in der Winterpause umgeschraubt: Die Liberalen rückten in die Mitte, die Union sitzt seitdem –  gegen ihren Willen – neben der AfD. 

Auch der Raummangel für Abgeordnete ist gemildert, unter anderem dank zügig fertiggestellter Bürohäuser in Modulbauweise (JF 10/22). Unterdessen gleicht noch mancher Flur – etwa in der Wilhelmstraße 65 – regelrecht einem Möbellager, in dem sich Regale, Schreibtische und andere Ausstattungsgegenstände stapeln. Der Grund: noch unvollendete Umzüge innerhalb der größer gewordenen SPD-Fraktion. Die läßt verdiente Genossen, also jene, die schon länger im Bundestag sitzen, quasi zur Belohnung umziehen. Meistens ins Jakob-Kaiser-Haus auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Das ist sozusagen die parlamentarische Butterseite. In die „Willi 65“ kommen dann Bundestagsneulinge. 

Eine weitere noch nicht abgeschlossene Umzugsphase betrifft die obere Ebene im Reichstag, wo sich die Sitzungssäle der Fraktionen befinden. Da die AfD nicht mehr drittgrößte Fraktion ist, sondern auf Platz fünf rangiert, muß sie ihren 240-Quadratmeter-Raum im Südwesten verlassen und ins nordwestliche, 151 Quadratmeter große Turmzimmer ziehen. Dort saßen in der vergangenen Legislaturperiode (beziehungsweise bis jetzt) die Grünen, die wiederum im Tausch nun den bisherigen AfD-Saal beziehen sollen. 

Immerhin: An Raumhöhe legt die AfD deutlich zu, wölbt sich doch künftig eine eigene, zum Teil verglaste Kuppel über den Köpfen ihrer Abgeordneten. Doch unten an den Tischen geht es im neuen Sitzungsraum merklich enger zu. Maximal 117 Personen finden da Platz. Pech hat unterdessen die FDP. Denn weil sich die Grünen vergrößern, bekommen die Liberalen nun einen neuen Sitzungssaal-Nachbarn, nämlich die AfD. Also ausgerechnet die Fraktion, neben der sie drei Stockwerke tiefer im Plenum partout nicht sitzen wollten. Damit man sich bei Statements vor den sogenannten Aufstellern, also den Plakatwänden mit dem Fraktionslogo, nicht in die sichtbare Quere kommt, wird auf Verlangen der FDP eine zusätzliche Trennwand im gemeinsam genutzten Vorraum eingezogen. Bis alle Umbau- und Umzugsmaßnahmen abgeschlossen sind, hält die AfD-Frakton ihre Sitzungen übergangsweise ein Stockwerk tiefer ab, in einem der beiden Protokollsäle auf der Präsidialebene.

Einer in der AfD-Fraktion dürfte sich über den Umzug sehr freuen: der Ehrenvorsitzende Alexander Gauland. Denn während man bis jetzt im Saal „Paulskirche“ – die Namensgebung durch die AfD wurde offiziell nicht anerkannt – tagte, sitzt man künftig im „Gustav-Stresemann-Saal“. Nach dem 1929 verstorbenen nationalliberalen Reichskanzler und -außenminister hätte AfD-Senior Gauland gerne die parteinahe Stiftung benannt.