© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 20/22 / 13. Mai 2022

Die Linke sieht ihre Machtfülle bedroht
USA: Kippt der Oberste Gerichtshof das Recht auf Abtreibung? Demokraten gehen vorsorglich auf die Barrikaden
Liz Roth

Es platzte wahrlich eine Bombe, als Politico, die Insider-Zeitung des Washingtoner Politikbetriebs, vergangenen Montag ein Dokument veröffentlichte, das die Spaltung der amerikanischen Gesellschaft noch weiter untermauern sollte. In Rekordzeit füllten sich die Straßen im ganzen Land mit öffentlichen Protesten und Versammlungen. 

Durchgesickert war der erste Entwurf einer Mehrheitsmeinung des Obersten Gerichtshofs der Vereinigten Staaten, die das gesellschaftlich umstrittene Urteil von 1973 in dem Fall Roe gegen Wade kippen würde.

In der bis heute kontroversen Grundsatzentscheidung hatte das Verfassungsgericht damals verkündet, daß das Recht zur Abtreibung quasi in der Verfassung der Vereinigten Staaten verankert sei. In der Folge konnten konservative Bundesstaaten Schwangerschaftsabbrüche nicht mehr verbieten. 

Laut Politico ist der Entwurf, der von Richter Samuel Alito verfaßt wurde, „eine vollmundige, unerschrockene Ablehnung der Entscheidung von 1973, die den bundesstaatlichen verfassungsrechtlichen Schutz des Abtreibungsrechts garantierte, und einer nachfolgenden Entscheidung von 1992 ‘Planned Parenthood gegen Casey’, die das Recht weitgehend aufrechterhielt“.

„Die Verfassung verbietet es den Bürgern eines jeden Staates nicht, die Abtreibung zu regeln oder zu verbieten“, heißt es in dem Entwurf. „Roe und Casey haben sich diese Befugnis angemaßt. Wir heben diese Entscheidungen nun auf und geben diese Befugnis an die Menschen und ihre gewählten Vertreter zurück.“ Für Konservative ist dies ein Erfolg, da sie seit langem dafür kämpfen, daß jeder Bundesstaat selbst über seine Gesetze zur Abtreibung entscheiden darf.

Progressive Linke fürchten nun ein komplettes Verbot der Abtreibung in den Vereinigten Staaten. Laut Reuters plant das Unternehmen Amazon bereits, seine Mitarbeiter mit bis zu 4.000 Dollar für etwaige Reisekosten zu entschädigen, falls sie sich für einen Schwangerschaftsabbruch entscheiden und dieser in dem jeweiligen Bundesstaat verboten sein sollte. Tatsächlich gibt es nur neun Staaten, die bis heute ein Abtreibungsverbot haben, welches durch Roe außer Kraft gesetzt war.

Die Sprecherin des Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi, kritisierte in einem Interview mit NBC vergangenen Sonntag diejenigen, die Abtreibungen nicht unterstützen, als „respektlos“ gegenüber Frauen. „Es geht hier um etwas so Ernstes und so Persönliches und so Respektloses gegenüber Frauen“, sagte sie. „Wir befinden uns hier am Muttertag, in einer Woche, in der das Gericht den Frauen eine Ohrfeige verpaßt hat, weil es ihre Entscheidungen über die Größe und den Zeitpunkt der Familiengründung nicht respektiert. Lassen Sie uns also den Ball im Auge behalten. Der Ball liegt im Feld dieser Richter.“ 

Für Pelosi und die Mehrheit der Demokratischen Partei ist nun die Verankerung von Roe im Gesetz der richtige Weg. „Nur eine Kodifizierung kann das Recht noch schützen.“

Der republikanische Senator Lindsey Graham sagte hingegen bei Fox News, der Fall habe ein verfassungsmäßiges Recht geschaffen, „das es nicht gibt“, als es die landesweite Legalisierung der Abtreibung bestätigte. „Es hat vom ersten Tag an, an dem es entschieden wurde, bis heute zu einer Spaltung geführt.“ 

Richter wollen sich nicht einschüchtern lassen

Der Senator wies vor allem auch darauf hin, daß jeder Staat einen anderen Ansatz verfolgen würde, wenn der Oberste Gerichtshof Roe gegen Wade aufhebt. „Die Abtreibungsdebatte wird sich also nicht in Luft auflösen, sondern vom Volk entschieden werden, nicht von einer Handvoll Richter“, erklärte er. „Jetzt haben endlich gewählte Volksvertreter ein Mitspracherecht in bezug auf das Leben und die Bedingungen der Abtreibung. Ich denke, so sollte es auch sein.“

Konservative Richter beziehen sich auf die juristische Argumentation in dem Fall und erachten das Oberste Gericht nicht als Rechtssetzer. „Roe war von Anfang an ungeheuerlich falsch. Die Argumentation war außerordentlich schwach, und die Entscheidung hatte schädliche Folgen.“ Auch die Tatsache, daß überhaupt so ein Dokument vor seiner Veröffentlichung, die frühestens in einigen Monaten hätte stattfinden sollen, durchgesickert war, schockierte. 

Der Oberste Richter John Roberts hat eine Untersuchung eingeleitet. „Die Mitarbeiter des Gerichtshofs haben eine beispielhafte und wichtige Tradition, die Vertraulichkeit des Gerichtsverfahrens zu respektieren und das Vertrauen des Gerichtshofs zu wahren“, schrieb Roberts. Sein Kollege Clarence Thomas machte deutlich, daß sich die Richter nicht „einschüchtern“ lassen würden, aufgrund öffentlichen Drucks ihre Meinung zu ändern und betonte, daß es sich lediglich um einen Entwurf und nicht ein Urteil handele. Sowohl vor dem Obersten Gerichtshof als auch den privaten Häusern der jeweiligen Richter versammeln sich seitdem Demonstranten.

Foto: Täglicher Protest vor dem Obersten Gerichtshof der USA in Washington: Für das „Recht auf Abtreibung“