© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 20/22 / 13. Mai 2022

Die „zynische Selbstzerstörung“ des Zedernstaates
Libanon: Die Uneinigkeit der Christen, Sunniten und Schiiten läßt dem Land keine Luft zum Atmen
Markus Prochaska

Der Libanon dominiert selten die Schlagzeilen in westlichen Medien: 2019 brachen Massenproteste gegen das politische Establishment aus, dem exzessive Korruption und Unfähigkeit vorgeworfen wurde. 2020 zerstörte eine Explosion weite Teile des Hafens und richtete Schäden in großen Teilen der Stadt an. Mehr als 200 Todesopfer waren zu beklagen. Es folgten Massenproteste, die die Regierung von Premierminister Hassan Diab für die wirtschaftliche und politische Krise im Land verantwortlich machten. Diab trat daraufhin am 10. August 2020 zurück. 

In der Folge beauftragte der maronitische Präsident Michel Aoun – gemäß des Nationalpaktes von 1943 ist das Präsidentenamt stets von einem maronitischen Christen besetzt – den sunnitischen libanesisch-saudiarabischen Milliardär Saad Hariri mit der Regierungsbildung. Doch neun Monate lang verhinderten Streitigkeiten zwischen Aoun und Hariri, der ein technokratisches Kabinett zusammenstellen wollte, die Bildung einer Regierung. 

Lebenswichtige Überweisungen der Auslandslibanesen 

Hariri warf dem Präsidenten vor, die Regierungsbildung zu behindern, indem er auf einer „Sperrminorität“ in der nächsten Ministerriege bestehe und versuche, eine „konfessionelle und parteipolitische“ Verteilung der Ressorts durchzusetzen. Es sei „offensichtlich, daß wir nicht in der Lage sind, uns zu einigen“, betonte Hariri nach seinem Gespräch mit Aoun Mitte Juli 2021. „Sie können nicht von mir verlangen, daß ich alles tue, was ich kann, während ein anderer überhaupt nichts opfern will“, erklärte er einige Stunden später laut Les Echos im lokalen Fernsehsender Al Jadeed. 

Hariri hatte seine Entscheidung, seine politische Karriere zu unterbrechen, zudem mit dem „iranischen Einfluß, unserer Unentschlossenheit gegenüber der internationalen Gemeinschaft, internen Spaltungen und konfessionellen Spaltungen“ begründet. Er erklärte daraufhin, daß er, wenn er „ein Kabinett Michel Aoun“ bilden sollte, den wirtschaftlich angeschlagenen Libanon nicht retten werde und trat zurück.

Frankreichs Außenminister Jean-Yves Le Drian kritisierte hernach, daß der Verzicht Hariris  „eine weitere dramatische Episode in der Unfähigkeit der libanesischen Verantwortlichen“ sei, einen Ausweg aus der Krise des Landes zu finden. „Diese zynische Selbstzerstörung, die im Gange ist, hat gerade eine neue Episode erlebt, aber es ist noch Zeit, sich zusammenzureißen“, fügte Le Drian hinzu. „Die politische Klasse im Libanon hat die letzten neun Monate verschwendet“, betonte dann auch US-Außenminister Antony Blinken, der die Führer des Landes aufforderte, „ihre Differenzen unverzüglich beizulegen“.

Nun wird am 15. Mai gewählt. Doch die Libanesen trauen dem Staat und seinen Lenkern noch weniger als zuvor. Dies schlägt sich vor allem in einer niedrigen Wahlbeteiligung nieder, die seit Jahrzehnten kaum über 50 Prozentt liegt. Denn Korruption und Vetternwirtschaft durchziehen viele Bereiche von Wirtschaft und Verwaltung. Die aktuelle Wirtschafts- und Finanzkrise haben dieses Mißtrauen weiter verstärkt.

Seit Ende 2019 ist der Libanon von der schlimmsten Wirtschaftskrise seiner modernen Geschichte betroffen, die zu einem finanziellen Zusammenbruch und einer Verschlechterung der Kaufkraft der meisten seiner Einwohner geführt hat sowie zu einer Verknappung von Treibstoff und Medikamenten und einem Anstieg der Lebensmittelpreise.

Nach Angaben der Weltbank schrumpfte das Bruttoinlandsprodukt 2021 um 10,5 Prozent, die Zahl der Arbeitslosen schoß in die Höhe. Zusätzlich verlor das Libanesische Pfund (LBP) seit 2019, als der Bankensektor infolge eines Pyramidenspiels, mutmaßlich orchestriert vom Chef der Zentralbank Riad Salameh, kollabierte, um die 90 Prozent seines Wertes.

Bekam man 2018 noch für 1.500 LBP einen US-Dollar, muß man jetzt bereits 26.000 LBP auf den Tisch legen. Infolgedessen verarmten viele Libanesen. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung, so aktuelle Schätzungen, lebt in Armut und ist auf Überweisungen von Familienmitgliedern aus dem Ausland angewiesen, um irgendwie über die Runden zu kommen.

Geschätzte zehn bis 14 Millionen Libanesen oder Personen libanesischer Abstammung leben im Ausland, vor allem in Südamerika, Westafrika, Frankreich und den angelsächsischen Ländern. Ihre Überweisungen an Verwandte in der alten Heimat stellen einen bedeutenden Wirtschaftsfaktor dar.

Zusätzlich wird das Land von einer Energiekrise geplagt. Durch den Verfall der Währung verteuerte sich das importierte Öl stark, welches wiederum benötigt wird, um die Kraftwerke des Stromerzeugers „Electricité du Liban“ (EDL) zu betreiben. Dieser Staatsbetrieb schafft es aktuell, die Haushalte für maximal nur noch vier Stunden pro Tag mit Strom zu versorgen, und selbst vor der Krise wurde in Beirut jeden Tag für drei Stunden der Strom abgestellt, da EDL nicht genug produzierte, obwohl über die Jahre mehrere Milliarden an Subventionen an den Betrieb flossen. Fällt der staatliche Strom aus, springen private Generatorenbetreiber ein, deren Geräte für die Produktion Diesel benötigen, der ebenfalls importiert wird und dementsprechend teuer ist.

Die große Frage ist, wie die Parteien des Establishments, die sich nach Religionsgruppen und pro-westlicher/anti-westlicher Ausrichtung aufteilen – ein gutes Beispiel hierfür sind die schiitische Hisbollah und die christlichen „Lebanese Forces“ – , abschneiden werden. Die Wut über die konfessionalistischen Parteien, die den Libanon in eine schwere Wirtschaftskrise trieben und die fast zwei Jahre nach der verheerenden Hafenexplosion die Untersuchung behindern, ist groß. Einige dieser Parteien werden zudem von ehemaligen Warlords aus dem Bürgerkrieg geführt. Die Hisbollah verfügt über eine eigene Miliz mit schweren Waffen, die in den regionalen Konflikten, wie dem Krieg in Syrien, mitmischt. Neue, überkonfessionelle Gruppen kandidieren zwar, ihr Abschneiden ist aber eine der großen Unbekannten bei dieser Wahl. Denn trotz allen Unmuts müssen sie sich gegen Strukturen behaupten, die sich über Jahrzehnte gefestigt haben.

„Die Milizen müssen entwaffnet werden“

Einige Parteien versuchen aber, einer jüngeren Generation das Ruder zu überlassen und mit dem Image einer Warlord-Partei aufzuräumen. Nadim Gemayel, Kandidat für die christliche Kataeb-Partei, eine der ältesten Parteien des Landes, ist Sproß einer berühmten Familie, die seit langem in der politischen Arena mitmischt. Sein Vater war Milizenführer der Christen im Bürgerkrieg, sein Großvater gründete Kataeb. Der 40jährige sieht im Gespräch mit der JUNGEN FREIHEIT das Problem vor allem bei der Hisbollah und ihrem Waffenarsenal: „Heute haben wir eine bewaffnete Miliz im Libanon, die das gesamte Rechtssystem beeinflußt und vor Gewalt nicht zurückschreckt, um an der Macht zu bleiben. Um den Opfern der Explosion Gerechtigkeit zu verschaffen, muß die Miliz entwaffnet werden, damit die Judikative in Sicherheit ihre Arbeit fortführen kann.“

Auf die Wirtschaftskrise angesprochen, fügt er hinzu: „Die Hisbollah kontrolliert viele Sektoren, die Wirtschaft ist ihre Geisel. Wir müssen die Souveränität über unsere Grenzen zurückgewinnen, über die sie Schmuggel und Geldwäsche betreibt. Desweiteren müssen im Telekommunikations- und Energiesektor Privatisierungen durchgeführt werden, um ihren Einfluß zu reduzieren.“

Doch gerade die Sunniten haben das Problem, daß durch die Nichtteilnahme von Harisis Partei Zukunftsbewegung (Al Mustaqbal) eine „politische Leere“ (Al Jazeera) für die sunnitische Gemeinschaft geschaffen wurde. Der Milliardär Fouad Makhzoumi und seine Nationale Dialogpartei versuchen, diese Leere zu füllen. Auch Bahaa Hariri, ein Bruder von Saad Hariri, ist mit seiner Partei Gemeinsam für den Libanon (Sawa Li Lubnan) dabei.