© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 20/22 / 13. Mai 2022

Das Gaslichtern geht weiter
Geschichtspolitik: Die Bundesregierung will ein Dokumentations-zentrum zur deutschen Besatzungsherrschaft in Europa errichten
Thorsten Hinz

Spiegel online titelte: „Neuer Gedenkort für deutsche Greueltaten“. Es geht um das Dokumentationszentrum „Zweiter Weltkrieg und deutsche Besatzungsherrschaft in Europa“, kurz ZWBE, das der Bundestag am 9. Oktober 2020, also noch zu Zeiten der schwarz-roten Koalition, beschlossen hatte. Am 4. Mai segnete die Bundesregierung es endgültig ab. Das Zentrum soll Teil des Deutschen Historischen Museums in Berlin werden, wo bereits eine „Stabsstelle“ gebildet wurde. Laut dem 66 Seiten umfassenden Exposé soll es „in seiner ganzen geographischen Breite und historischen Unterschiedlichkeit“ erfassen, was deutsche Besatzer zwischen 1939 und 1945 in Europa angerichtet hatten. Im schlechten Deutsch heißt es: „Damit wird die deutsche Besatzung als zentrale Erfahrung der europäischen Nachbarinnen und Nachbarn anerkennen(!).“ 

Die Einrichtung soll Platz bieten für eine Dauerausstellung, für Wechselausstellungen, Tagungs- und Konferenzräume, für Dolmetscherkabinen, einen Lesesaal, für Archive, Magazine und Büros. Auch ein „Raum für individuelles Gedenken und Reflexion“ ist vorgesehen. Man rechnet mit exakt 756.000 Besuchern im Jahr, also 2.100 pro Tag. Die Verfasser bevorzugen einen Neubau in zentraler Lage in Berlin. Angemeldet wird ein Raumbedarf von 15.000 Quadratmetern, wobei pro Quadratmeter 8.000 Euro veranschlagt werden. Das ergibt Baukosten in Höhe von 120 Millionen.

Doch dabei wird es vermutlich nicht bleiben, zumal nicht nur gedacht, archiviert und ausgestellt, sondern auch geforscht werden soll. „Die finanzielle Ausstattung der Fellowships muß familiengerecht und international konkurrenzfähig sein, die Sachausstattung die Durchführung der Fellowprojekte gewährleisten und finanziell so unterlegt sein, daß flexibel auf gegenwärtige Situationen und Herausforderungen reagiert werden kann.“

Berlin ist bereits mit einer engmaschigen „Topographie des Terrors“ überzogen. In ganz Deutschland gibt es unzählige originale Gedenk- und Erinnerungsorte. Dennoch wird in dem Papier behauptet: „In Deutschland ist das Wissen über die deutsche Kriegführung und die deutsche Gewaltherrschaft außerhalb wissenschaftlicher Kontexte gering.“

Das ist Unfug. In Politikerreden, Fernsehdokus, im Geschichtsunterricht ist von nichts anderem die Rede. Längst wird der Begriff „Vergangenheit“, erst recht „deutsche Vergangenheit“, reflexhaft und exklusiv mit der NS-Zeit und ihren Verbrechen assoziiert. In dem zitierten Papier ist 29mal von „Verbrechen“, darunter einmal explizit von „deutschen Verbrechen“, die Rede. Im allgemeinen Bewußtsein ist die deutsche Geschichte abgeschafft und auf eine zwölf Jahre umfassende Verbrechenshistorie geschrumpft, die nie vergehen darf. Sie soll ewige Gegenwart bleiben, in der das NS-Böse immer und überall lauert und tagtäglich bekämpft werden muß.

Historische Forschung, Museums- und sonstige Öffentlichkeitsarbeit, die den Nationalsozialismus betreffen, sind zur Geschichtspädagogik verkümmert, die – in der getragenen Formulierung Hans-Ulrich Wehlers – „nach demjenigen Sinn (fragt), den historische Aktionen unter theoretischen Gesichtspunkten von heute annehmen können“. Im Klartext: Es geht um die politische Zweckmäßigkeit. Praktisch läuft es auf die kollektive Neurotisierung durch permanenten Psychokrieg hinaus. In die einfache Sprache von Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Grüne) übersetzt heißt das konkret: „Dieses Erinnern soll vor allem auch in die Zukunft gerichtet sein und deutlich machen, wie wichtig für das europäische Projekt und für unser Land im Herzen Europas Demokratie, Rechtsstaat und gelebte Vielfalt sind, wie entscheidend unser Engagement in und für Europa ist.“

Das neue Zentrum soll also eine kunterbunte, im Kern autoritäre Staatsideologie und eine brüchige Politik legitimieren. Wer jetzt noch gegen Brüssel, gegen den Euro, gegen Madame Lagarde oder gegen Parallelgesellschaften mosert, der hat nichts aus der Geschichte gelernt und ist ein tendenzieller Nazi. Das ist natürlich wahnhaft, doch der Wahnsinn hat System. 

Die Politik und die Rede darüber sind in Deutschland von einem völligen Realitätsverlust gekennzeichnet. Gegen alle Evidenz wird anhaltend behauptet: „Die Deutschen sind die größten Profiteure des Euro.“ 2015 wurde verbreitet, daß die Karawane junger Männer, die nach Merkels Grenzöffnung ins Land einzog, sich vornehmlich aus Ingenieuren, Ärzten, Wissenschaftlern, Studenten zusammensetze und ihr durchschnittlicher Bildungsgrad über dem der Einheimischen liege. Ein führender Wirtschaftskapitän stellte in den Raum, daß die neuen Fachkräfte uns ein zweites Wirtschaftswunder bescheren würden. Dann brach Greta, das autistische Schweden-Mädchen, die für Deutschland existentielle Energiefrage auf die Formel herunter: „Wer nicht hüpft, der ist für Kohle!“

Nun soll Deutschland nebst Rußland auch noch die Schuld am Ukraine-Krieg tragen. In der verdrucksten Diktion des Kinderbuchautors und als Wunschkanzler lancierten Robert Habeck klingt das so: Deutschlands rußlandfreundlicher Kurs bei der Energiepolitik der vergangenen zehn Jahre habe die Ukraine „verprellt“, weswegen „wir eine größere Bringschuld in der Erwartungshaltung der Ukraine“ haben. Dieselben Kräfte, die wegen des Erdbebens im japanischen Fukushima in den deutschen Kernkraftwerken die atomare Apokalypse schlummern sahen und ihre Abschaltung durchsetzten, kanzeln heute die Warner vor einem Atomkrieg als Verschwörungstheoretiker, Extremisten, Putin-Versteher oder mit dem freislerianischen Schimpfwort „Lumpen-Pazifisten“ ab. Da wurden Milliardenbeträge in die politische Bildung, die Demokratieerziehung und Vergangenheitsbewältigung gesteckt mit dem Ergebnis, daß das Land quasi verrückt ist und seine politische Urteilskraft am Boden liegt.

Das ist kein Wunder. Wem ein einziger, kontaminierter Abschnitt der Vergangenheit zur ewigen Gegenwart geworden ist, dem fehlt für die reale Gegenwart der Bezugsrahmen. Wer Geopolitik für eine NS-Idee hält, dem bleibt der Charakter der US-Politik verborgen. Wer den Verweis auf den Versailler Vertrag als rechtsextremistische Haßrede abtut, der weiß nichts über die Gründe für den Aufstieg der NS-Bewegung. Wer die NS-Schuld zur Metaphysik erhebt, der kann sich nicht gegen Unterstellungen und moralische Erpressungen des Auslands wehren. Er bleibt gefangen in der Klaustrophobie eines historischen Gruselkabinetts.

Der Publizist Martin Lichtmesz hat für den Psychoterror, der darin herrscht, den Begriff „gaslichtern“ eingeführt. Er ist abgeleitet vom Thriller-Klassiker „Gaslight“ (1940), der 1944 unter dem Titel „Das Haus der Lady Alquist“ mit Ingrid Bergman und Charles Boyer neu verfilmt wurde. Paula Almquist soll durch allerlei Manipulationen im Haus, unter anderem das ständig flackernde Gaslicht, systematisch in den Irrsinn getrieben werden. Am Ende zweifelt sie an der eigenen Wahrnehmung und ihrem Verstand.

Seit gut sechs Jahrzehnten, also seit drei Generationen, wird in der Bundesrepublik geschichtspolitische Gaslichterei betrieben, mit zunehmender Intensität. Ihre Akteure sind zumeist selber Geschädigte. Der Unterschied zu Lady Alquist liegt darin, daß ihnen die Erlösung verwehrt ist und sie sich auch gar nicht danach sehnen. Im Gegenteil, sie haben ihre Beschädigung vollständig verinnerlicht, sind glücklich in ihrem Zustand und entwickeln einen missionarischen Eifer, ihn auch den anderen zuteil werden zu lassen. Aufklärung ist zwecklos, denn wie Dieter Bohlen sagte: „Versuch doch mal einem Bekloppten zu erklären, daß er bekloppt ist.“ Die bundesdeutsche Geschichtspolitik läßt sich – um im Bild zu bleiben – als die Organisation der unglücklichen Unwissenden durch die glücklichen Bekloppten beschreiben.

Die Planer des Dokumentationszentrums schreiben die „deutsche Schuld“ gegenüber den anderen Europäern fest und transzendieren sie gleichzeitig in eine europäische Dimension: „Die Ausstellung macht deutlich, daß die deutschen Besatzer überall in Europa bei der Etablierung und Aufrechterhaltung ihrer Herrschaft auf das Wissen und die Beteiligung von Akteurinnen und Akteuren auf verschiedenen Ebenen der besetzten Gesellschaften angewiesen waren.“ 

Raphael Gross, seit 2017 Chef des Deutschen Historischen Museums und zuvor in gleicher Funktion am Jüdischen Mueum in Frankfurt am Main tätig, nennt das „ein Mehr an Auseinandersetzung mit deutscher Geschichte im europäischen Kontext“. 

Das Konzept knüpft an alte Überlegungen des Historikers Dan Diner an, der den Holocaust das „insgeheime Gründungsereignis Europas“ nannte und anregte, Berlin zum „Zentrum dieser negativen gemeinsamen Erinnerung“ zu machen. In diesem Sinne hatte auch Tony Judt in seiner „Geschichte Europas von 1945 bis zur Gegenwart“ (2005) geschrieben, es sei wichtig, „ein bestimmtes Europa aus den Krematorien von Auschwitz zu bauen“ und es „durch die Zeichen und Symbole seiner schrecklichen Vergangenheit“ zusammenzuschließen.

Vor dem Hintergrund demographischer und gesellschaftspolitischer Veränderungen in Deutschland und Europa läßt diese thematische Engführung sich nicht mehr durchhalten. Daher wird das Konzept erweitert: „Zu den Versatzstücken dieses (NS-)Weltbildes zählten Antisemitismus, Antikommunismus, Antiziganismus, Antislawismus und Rassismus, aber auch spezifisch nationalsozialistische Vorstellungen von Arbeit sowie die eugenische Beanspruchung der Definitionsmacht über den Wert jedes einzelnen Lebens jenseits ethischer Normen.“

Es ist bemerkenswert, daß der Antikommunismus gleichberechtigt in die Aufzählung der verwerflichen Haltungen aufgenommen wird. Die in der roten Hölle schmorenden Genossen Lenin und Stalin werden darauf mit freundlicher Genehmigung des Hausherrn mehr als nur eine Wodkaflasche leeren. Diese implizite Verharmlosung des roten Totalitarismus ergibt sich aus der Logik des Projekts, das die Historisierung des Nationalsozialismus etwa als Gegenreaktion auf das „logische und faktische Prius“ (Ernst Nolte) des Bolschewismus verhindern will.

Die NS-Vergangenheit darf eben nicht vergehen. Ihre Bewirtschaftung ist der einzige Wirtschaftszweig, der in Deutschland noch floriert, wobei das wissenschaftliche Erkenntnisinteresse bloß die notdürftige Tarnung des politischen und tagesaktuellen Zwecks ist. Laut Gross erleben wir gerade, „wie politisch Geschichte und Erinnerung werden kann“. Staatsministerin Claudia Roth ergänzt: „Dieses erinnerungspolitische Signal ist in diesen Zeiten um so wichtiger, in denen mitten in Europa ein grausamer Angriffskrieg gegen die Ukraine stattfindet.“ Es geht darum, die Deutschen nicht gerade kriegswillig, aber opferbereit zu stimmen. In seiner Fernsehansprache mühte Kanzler Scholz sich, aus dem „Vermächtnis des 8. Mai“ 1945 „unsere historische Verantwortung“ und daraus die „maximale Solidarität mit der angegriffenen Ukraine“ zu folgern.

Ist diese Kausalkette wirklich zwingend? Im Flackern des Gaslichts verschwimmen die Konturen der Vergangenheit, der Gegenwart, des Realen, der Politik. Das neue Dokumentationszentrum wird dafür sorgen, daß die Flamme weiter flackert.