© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 20/22 / 13. Mai 2022

Nietzsches philosophische Landschaftsfiktion
Schöner Schmus mit Dionysos
(ob)

Friedrich Nietzsche war für Gottfried Benn der „weitreichende Gigant der nachgoetheschen Epoche“, für seine im Kaiserreich aufgewachsene Generation geradezu „das Erdbeben der Epoche“ und „seit Luther das größte deutsche Sprachgenie“. Doch alle Bewunderung trübte nicht den diagnostischen Blick des Mediziners Benn auf Nietzsches Schwächen. Ganz unerträglich war ihm die Selbststilisierung des Philosophen in der italienischen „Sehnsuchtslandschaft“ zwischen Genua und Neapel, die er seinen Landsleuten im „nebligen Norden“ als Raum seelischer Regeneration anpries, wo sie sich auf „dionysische“ Selbstbefreiung von den Zwängen der Moderne einstimmen könnten. Sarkastisch quittierte Benn solche Illusionen eines kurzsichtigen, frühpensionierten, nicht auf großem Fuße lebenden deutschen Professors: „Schöner Schmus mit Dionysos. Dafür 20 Dioptrien auf zwei Brillen u. bei Wurstpellen gearbeitet u. auch noch die Auflagen selbst bezahlt.“ Andreas Urs Sommer, der die Forschungsstelle Nietzsche-Kommentar der Heidelberger Akademie der Wissenschaften leitet, knüpft an dieses desillusionierende Statement an, wenn er in einem Essay über „Nietzsches Ligurien“ (Zeitschrift für Ideengeschichte, 2/2022) den Schwärmer von „troubadourischer Freigeistigkeit“ als ängstlichen Touristen präsentiert, der schon wegen seiner extremen Kurzsichtigkeit die Landschaften kaum wahrnahm, in denen er sich, wohlversorgt mit Reiseführern, vorsichtig auf gut ausgeschilderten Pfaden bewegte. Sein „er-lesenes und erdachtes Italien“ glich daher eher einer „philosophischen Landschaftsfiktion“, mit der er sich jedoch eine ideale Bühne für seine Auftritte als „fundamentaloppositioneller Freigeist“ schuf. 


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