© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 20/22 / 13. Mai 2022

GegenAufklärung
Kolumne
Karlheinz Weißmann

Jan Fleischhauer hat sich in seiner Focus-Kolumne am 7. Mai Gedanken darüber gemacht, warum wer mit welchen Argumenten für oder gegen die Unterstützung der Ukraine im Kampf gegen Rußland eintritt. Es geht mir da wie bei den meisten seiner Deutungsansätze: spontane Zustimmung. Allerdings wirkt Fleischhauers Deutung der „rechten“ Position etwas unterkomplex. Sicher gehört auch das Kaltschnäuzige dazu, aber in erster Linie geht es um Desorientierung, die sich aus der Dauererfahrung des Underdog erklärt. So trifft sich irgendein Beinhart-Nationaler mit der Dragqueen zum traulichen Gespräch und läßt das auch noch medial verbreiten, und jemand, der sich für konservativ hält, stellt gut sichtbar „The Joy of Sex“ ins Bücherregal, verlangt absolute Meinungsfreiheit, bekundet, daß es etwas wie das Gemeinwohl gar nicht gibt und sein Oberarm ihm und nur ihm gehört, und jetzt gibt es eben auch diejenigen, die ihr Herz für die russische Friedensmacht und das Geschwiemel der Anti-Atomtod-Bewegung entdecken – einfach aus dem Bedürfnis heraus, auch mal zu den Guten zu gehören.

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It’s the demography, stupid! – Der Wahlsieg von Sinn Fein in Nordirland wird hierzulande regelmäßig unter dem Aspekt der Verdrängung der Ulster-Unionisten von der Macht gedeutet, auch als Erfolg einer proeuropäischen Kraft in diesem Teil des Vereinigten Königreichs und den daraus folgenden Problemen für die Aufrechterhaltung der Grenzkontrolle zur EU auf der Grünen Insel. Was dabei völlig aus dem Blick gerät, ist der tiefere Grund für den Durchbruch: die höhere Geburtenrate des katholischen Bevölkerungsteils, die im vergangenen Jahr dazu geführt hat, daß der protestantische in die Minderheit geriet. 

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Nach einem Bericht der Neuen Zürcher Zeitung (Online-Ausgabe vom 2. Mai) ist die Jugendgewalt in den wichtigsten Staaten des Kontinents bis 2014 nach und nach zurückgegangen, seitdem ist ein deutlicher Anstieg in Deutschland, den Niederlanden, der Schweiz und Großbritannien verzeichnet worden. 

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Ein Beitrag des Cicero (Online-Ausgabe vom 3. Mai) weist auf eine Erhebung des Vereins für Demokratie und Vielfalt in Schule und beruflicher Bildung hin, die feststellt, daß es an neun von zehn Schulen des Bezirks Neukölln zu „konfrontativer Religionsbekundung“ (Einforderung von Sonderrechten, Verächtlichmachung und Drangsalierung Konfessionsverschiedener, Andersgläubiger, Säkularer, Rechtfertigung religiös motivierten Terrors) kommt. Gemeint ist nicht irgendeine Religion, sondern der Islam, weshalb der rot-blutrot-grüne Berliner Senat von dem Sachverhalt nichts wissen mag, sondern seine Sorge pflegt, er könne in den Ruch der „Islamophobie“ geraten.

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Gerade schien widerspruchslos akzeptiert, daß der 8. Mai von jedermann als Tag der Befreiung oder des Triumphs über den Faschismus zu feiern sei. Aber dem Endsieg der „Ideen von 1945“ ist der russische Angriff auf die Ukraine in die Quere gekommen. Den hat Moskau bekanntermaßen mit der Absicht gerechtfertigt, das Brudervolk zu erlösen, den jüdischen „Nazi“ Selenskyj zu stürzen und wie im Großen Vaterländischen Krieg die „faschistische Bestie“ niederzuwerfen. Dagegen vertritt Selenskyj die Auffassung, daß Putin im Grunde ein Wiedergänger Hitlers sei, das russische System als „Raschismus“ bezeichnet werden müßte und sich aktuell eine Art Wiederholung des Zweiten Weltkriegs abspiele. Bemerkenswert daran erscheint, daß die blinden Flecken immer dieselben sind, also niemand die Kontinuität des russischen Imperialismus als entscheidenden Faktor benennen will, der vom Drang der Zaren nach Westen über den Aufbau des „roten Imperiums“ und den Hitler-Stalin-Pakt samt Aufteilung des zwischeneuropäischen Raums und die Schaffung des Ostblocks bis zu Putins „Sammlung der russischen Erde“ reicht. Diesen Zusammenhang zu begreifen, muß man nicht auf Mussolinis Weltanschauung oder das schlechthin Böse in Menschengestalt zurückgreifen. Es genügt ein Blick auf die Siegesparade, die Putin am 9. Mai abgehalten hat, auf die Kostüme der Akteure und die Sinnbilder, die sie mitführten.

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Keine stabile Identität ohne ein gerüttelt Maß Borniertheit.

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Einst war es nur das Verbot von Hakenkreuz und Verwandtem, zwischenzeitlich auch das der Hoheitszeichen der DDR, irgendwann kam das Banner der Kurdischen Arbeiterpartei hinzu, aber mittlerweile wird der Katalog verbotener Symbole in Deutschland länger und länger, erfaßt partiell das kaiserliche Schwarz-Weiß-Rot und die alte Reichskriegsflagge, das „Z“ auf Autokennzeichen und in Berlin fallweise die ukrainischen wie die russischen Farben. Man kann darin einen Ausdruck von Kontrollzwang sehen oder einen Beweis für die Macht der Zeichen: „Ich bin nicht mehr als du glaubst, daß ich bin, und ich bin all das, was du glaubst, was ich sein kann.“ (Das Sternenbanner im „Gespräch“ mit dem US-Innenminister Franklin K. Lane am amerikanischen Flag Day, dem 14. Juni 1914)


Die nächste „Gegenaufklärung“ des Historikers Karlheinz Weißmann erscheint am 27. Mai in der JF-Ausgabe 22/22.