© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 20/22 / 13. Mai 2022

Vom Schweigen der Lämmer
Film: Valdimar Johannssons überwältigendes Mystery-Drama „Lamb“ ist jetzt auf DVD/Bluy-ray erschienen
Werner Olles

Mitten in der kargen Landschaft im Norden Islands betreiben Maria (Noomi Rapace) und ihr Mann Ingvar (Hilmir Snaer Guðnason) eine kleine Schafzucht. Auf dem abgelegenen Hof in der menschenfeindlichen Einöde lebt das kinderlose Ehepaar in einer Atmosphäre der Einsamkeit, die sie aber nicht weiter zu stören scheint. Mit großer Hingabe kümmern sie sich um die Schafe, nur manchmal dringt bei Maria eine Traurigkeit durch. Vor Jahren hat sie ihr Kind verloren, ein Trauma, das unausgesprochen zwischen dem Paar steht.

Eines Nachts, als die Schafe beginnen ihre Lämmer zu werfen, helfen sie einem der Muttertiere bei der Geburt. Das Wesen, das es auf die Welt schafft, hat zwar den Kopf eines Lammes, aber den Körper eines Menschenkindes, dessen rechter Arm in einem Huf endet. Zunächst steht Maria und Ingvar der Schrecken ins Gesicht geschrieben, doch nach einem Moment der Irritation verwandelt sich ihr Schock in Freude, sehen sie doch jetzt ihren Wunsch nach einem Kind erfüllt. Sie nehmen die Kreatur mit ins Haus, stellen ein Kinderbettchen ins Schlafzimmer, das Wesen, das sie Ada nennen, wird gebadet, eingekleidet und umsorgt.

Beeinflußt von der nordischen Sagen-, Legenden- und Mythenwelt

Die familiäre Harmonie wird jäh gestört, als Ingvars Bruder Pétar, ein arbeitsloser Musiker, zu Besuch kommt. Auch er reagiert zunächst erschrocken auf das Menschen-Lamm. Als er sieht, wie liebevoll Maria, zu der er sich hingezogen fühlt, den seltsamen Familienzuwachs liebevoll mit der Flasche aufzieht, gewöhnt er sich an Ada und nimmt sie sogar mit zum Fischen. Maria erschießt inzwischen das Mutterschaf, das nach ihrem Lamm suchend vor ihrem Fenster blökt. Doch das Idyll droht zu zerbrechen, da Ingvar die Avancen, die sein Bruder Maria macht, zuviel werden. Pétar muß den Hof verlassen. Durch die Spannungen zwischen den Brüdern ist Ingvar und Maria jedoch verborgen geblieben, daß es da noch eine andere Wesenheit gibt, die entschlossen ist, sich das zurückzuholen, was ihr gehört …

Valdimar Johannssons Mystery-Drama „Lamb“ („Dyrio“, Island, Schweden, Polen 2021), das Spielfilmdebüt des Regisseurs und Drehbuchautors, ist tief beeinflußt von der nordischen Sagen-, Legenden- und Mythenwelt, die Island seit jeher prägt. In der ersten Hälfte des Films gibt es kaum Dialoge, ein subtiler Hinweis, daß hinter der scheinbaren Idylle noch etwas Dunkles, Unheimliches und Unausgesprochenes lauert, daß es Dinge im Leben von Maria und Ingvar gibt, die besser im Verborgenen bleiben.

Neben diesen übernatürlichen Elementen, der Atmosphäre von Spannung und Melancholie im Leben des Paares, dessen einzige Gemeinsamkeit in der Aufzucht der Lämmer besteht, ist es vor allem Noomi Rapace, die ihre Wandelbarkeit bereits in der Millenium-Trilogie unter Beweis stellte, die „Lamb“ zu einem Meisterwerk macht. Wenn Maria ihrem Monsterkind einen Blumenkranz flicht oder mit ihm badet, ist ihr das Glück anzusehen, das Ada in ihr tristes Leben gebracht hat. Und umgekehrt schleicht sich der Horror ein, wenn das Hybridwesen sich selbst zum ersten Mal im Spiegel sieht und wir sein Entsetzen ahnen über seine eigene Fremdheit. Hier stellt der Film die Gretchenfrage nach den Urgründen des Menschseins. Die Schuld Marias am Tod der natürlichen Mutter kollidiert da unversehens mit den Dämonien der menschlichen Ziehmutter, die nicht anders kann, als dieses ebenso herzige wie monströse Wesen zu lieben. Nur langsam erschließt sich so dem Zuschauer die hermetische und mystische Atmosphäre, in der Mensch, Tier und Natur irritierend verschmelzen. Getragen von der Schwere der Landschaft, eingehüllt in einen Schleier aus Nebel, Wolken, Hoffnungslosigkeit, Übersinnlichem, bleibt dieser überwältigende Film mit seinem düsteren Schluß lange im Gedächtnis.

DVD/Blu-ray: Lamb. Koch Media 2022, Laufzeit etwa 106 Minuten