© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 20/22 / 13. Mai 2022

Heute wird morgen zu einem Gestern
Gedenkblatt: Vor 150 Jahren starb der Dramatiker und österreichische Nationaldichter Franz Grillparzer
Eberhard Straub

Franz Grillparzer ist gründlich vergessen. Vor 150 Jahren in Wien gestorben, wird dieses Datum gar nicht wahrgenommen, um an diesen Dichter zu erinnern und dabei zu erproben, ob seine Trauerspiele und Staatstragödien nicht doch wieder einen Platz im Repertoire verdienten. Immerhin wurde am 15. Oktober 1955 das im Krieg schwer beschädigte Wiener Burgtheater mit „König Ottokars Glück und Ende“ wiedereröffnet. Diese denkwürdige Aufführung war ein Bekenntnis zu Österreich, das in neuer Form mit dem Staatsvertrag im Mai 1955 nach zehn Jahren Besatzung seine Unabhängigkeit zurückerhielt. Denn Rudolf von Habsburg, der Österreich von der Herrschaft des böhmischen Königs 1278 befreit hatte, galt als der Gründer Österreichs und Franz Grillparzers Drama von 1823 als geeignet, eine wünschenswerte Nation Österreich, ohne Zusammenhang mit Deutschland, festlich und beziehungsreich mit dem „ewigen Österreich“ und dem „österreichischen Menschen“ zu verbinden, von dem damals viel die Rede war. 

Das war ein weiteres Mißverständnis nach vielen früheren, die diesen großen Österreicher und deutschen Dichter verbitterten und veranlaßten, schon 1839 mit dem Burgtheater zu brechen und seine letzten Stücke nur noch für die Schublade und ein fernes Publikum in unbestimmter Zeit zu schreiben. Die stürmische Anerkennung in den letzten zehn Jahren seines langen Lebens kam zu spät. „Will unsere Zeit mich bestreiten / Ich lass es ruhig geschehn. / Ich komme aus andern Zeiten / Und hoffe in andre zu gehn“. Mit diesen Versen charakterisierte sich Franz Grillparzer 1859. Er rechtfertigte seinen Rückzug ins Schweigen nach der ihn erschütternden Revolution von 1848/49 damit, in diesen wirren Zeiten mit der schweren Kunst beschäftigt zu sein, zu leben oder zu überleben. Er war als Deutscher geboren und starb als Österreicher. Immer wieder mußte er sich mit der österreichischen Zensur auseinandersetzen, doch diese Erfahrungen verleiteten ihn nicht dazu, sich Illusionen über die liberalen Ideologen zu machen. In der nahen Zukunft erwartete er schreckliche Entwicklungen, die vollendeten, was sich während der Französischen Revolution schon angedeutet hatte: die Entfesselung nur noch zerstörerischer Kräfte, die Europa ins Chaos stürzen würden. 

Romantische Übertreibungen mißfielen ihm gründlich

Französische Zustände, wie er sie 1859 beschrieb, sah er für das übrige Europa voraus: von der Legitimität, der Autorität zu Nationalität, Absurdität, Servilität und Bestialität. Das wahre und einzige Vaterland blieb ihm, wie jedem gebildeten Deutschen, als den er sich begriff, Weimar, wo zur Zeit Schillers und Goethes Kunst und Leben, das Ideal und die Wirklichkeit einander ergänzten. Seitdem waren für ihn die Kunst und alle höheren Bestrebungen nur noch ein Traum. Die romantischen Übertreibungen, ob in der Literatur oder in der Musik, mißfielen ihm gründlich, den Philosophen, ob Fichte, Schelling oder Hegel, warf er vor, den gesunden Menschenverstand um sein Recht und seine Würde zu bringen, und von den politischen „Zukunftsgestaltern“ trennte ihn deren Anspruch auf theoretische Unfehlbarkeit und ihre Absicht, selbstherrlich das mannigfaltige und unberechenbare Leben vereinheitlichen und in ein System pressen zu wollen.

Das Ziel des Lebens erkannte er – wie Goethe – im Leben selbst, das sich unerschöpflich und unberechenbar in zahllose Richtungen verströmen will. Das lebendige Dasein verlange nach Mannigfaltigkeit, es lasse sich nicht in Strukturen einpassen und Normen unterwerfen. Diesen Dichter der Freiheit verstörte es ungemein, wie der Verwaltungsstaat und Rechtsstaat mit seinen Interventionen im Namen der Staatsräson und Gefahrenabwehr nach Gleichheit der Lebensverhältnisse und Homogenisierung des Tuns und Denkens trachteten. Der Gründerin von Prag, Libussa, in dem nach ihr benannten Trauerspiel, schauderte vor einer völlig durchrationalisierten Gesellschaft, in der das Edle schwindet, das Hohe sich aber bedrängt sieht. „Und Freiheit wird sich nennen die Gemeinheit“. In solchen Epochen, in denen der eigene Vorteil mit Trug und Hinterlist verfolgt wird, herrschen Meinungen, dauernd im wütenden Streit mit anderen, verschwinden Wahrheit und Vernunft im beständigen Krieg gegen jeden Vorzug, gegen alles Besondere und Eigentümliche. 

Das unmittelbare, selbstbestimmte Leben wird erstickt in einer alles durcheinanderbringenden Unordnung. Der Mensch, zu Freiheit berufen, wird konsequent entmündigt in einem Maschinenstaat, in dem er systemgerecht zu funktionieren hat, was feierlich mit Menschenrechten und Pflichten dem Großen und Ganzen gegenüber verquickt wird, um die offenkundige Sklaverei unter redensartlicher Schminke zu verbergen. Franz Grillparzer war kein Reaktionär, er war auch kein liberalistischer Individualist. Seine Personen – Herrscher und verständige Einzelne – wissen, „was heut war gestern morgen – und wird morgen / ein gestern sein.“ Es gibt nichts Beständiges im ununterbrochenen Wechsel der Geschichte. Gerade deswegen braucht der Mensch eine konkrete Ordnung, die es ihm überhaupt erst ermöglicht, friedlich und vernünftig zu leben, um zu seiner Freiheit zu gelangen. Ohne Ordnung, stabilisiert durch Institutionen und Gehorsam, herrschen nur Willkür und rohe Macht. Diese wird erst zu seiner sittlichen Macht, wenn das Niedrige sich dem Höheren beugt und eine Hierarchie jeden über seine Möglichkeiten im immer unruhigen Leben als Zusammenleben unterrichtet. In der Freiheit und dem Lebenswillen schlummern immer Versuchungen, sich zu überheben und seinem Ehrgeiz und Stolz rücksichtslos nachzugeben. 

Schutz vor dem Einbruch von Chaos und Willkür

Kein Mensch ist gut, das Böse und das Schlimme wollen ihr Recht; es kommt darauf an, mit ihm fertig zu werden während der vom freien Menschen bewirkten Wirren und Irrungen. Einer genügt, um einen ganzen Staat in Not und Verderben zu stürzen. Diese Erfahrung erlaubt es aber nicht, sich des Rechtes als Zwangsmittel zu gebrauchen, aufgeregte Geister daran zu hindern, Unruhe zu stiften und gegen sie recht haben zu wollen. Es sind die Ehrfurcht vor den öffentlichen Einrichtungen, die Achtung von Sitten und Bräuchen, vor ungeschriebenen Übereinkünften, die Schutz vor dem Einbruch des Chaos und reglementierender Willkür bieten sollen. Das Zeichen für das Hohe und die Stabilität ist die Krone. Eine staatliche und allgemeine Ordnung kann sich Grillparzer nach den Erfahrungen mit der Französischen Revolution und Napoleon nicht in einer Gesellschaft vorstellen, die alles in ein ewiges Gespräch auflöst und unfähig ist, sich in den Stunden der großen Entscheidungen, der Bejahungen und Verneinungen, zu bewähren. 

Allerdings kann auch die Entscheidung Krisen beschleunigen. Im „Bruderzwist im Hause Habsburg“, der unmittelbar vor dem Dreißigjährigen Krieg spielt und mit zu dessen Auslöser gehört, veranschaulicht Franz Grillparzer, wie alles, was der Herrscher, „die Krone“ als Symbol für Handeln im Notfall, unternehmen kann, unter Umständen den Zerfall der öffentlichen Ordnung vorantreibt, statt ihn aufzuhalten oder dessen Folgen zu mildern. Es ist das tiefsinnigste Staatsdrama in unserer Literatur, geschrieben von einem Dichter, der mit dem klassischen Ordnungsdenken seit der Antike vertraut ist und deshalb nicht beliebige Einfälle Kaiser Rudolf II. in den Mund legt, sondern Einsichten, die der denkende und vieles bedenkende Kaiser aus der Geschichte, also aus „dem Leben“ gewonnen hat. 

Auch die beste Verfassung kann umgedeutet werden

All die Kräfte, die mit ihm, dem Kaiser, hadern, streben nur nach persönlicher Macht. Aber die bloße Macht, die nur mit den Eitelkeiten und Begehrlichkeiten zur Macht gar nicht Berufener zusammenhängt, versteht sich, ohne Rücksicht auf die Freiheit anderer, als Mittel zur schrankenlosen Selbstermächtigung, nicht mehr umhegt von Sitte und Recht. Dem Kaiser, wie es der andere Rudolf in „Ottokars Glück und Ende“ sagt, legte alles ab, was menschlich und persönlich, er ging ganz in seinem Amte auf, in der Idee des Kaisertums, und wurde zum Kaiser, der niemals stirbt.

Rudolf II. sah sich in diesem Sinne als das Band, das die Eigensinnigen notdürftig zusammenhält, „unfruchtbar selbst, doch nötig, weil es bindet“. Es genügt in Lagen, „wo ein Schritt voraus / Und einer rückwärts gleicherweis’ verderblich“, im Mittelpunkt der eignen Schwerkraft zu verharren, um den sich als Mittelpunkt des Reiches, alles schart, was gut und recht. Die Parteien und ihre Führer haben jede Ehrfurcht und jedes Verständnis für das Hergebrachte und die Überlieferung verloren. Sie greifen dreist in die weiten Reiche von Kunst und Wissenschaft ein, von Staat und Kirche. Mit ihrem Eigennutz stürzen sie diese Fundamente jeder geistigen Ordnung von der Höhe, die sie schützt „Zur Oberfläche eigener Gemeinheit, / Bis alles gleich, ei ja, weil alles niedrig“.

Die sich selbst von sämtlichen Banden lösenden Gewalttätigen bedenken nicht, daß sie mit ihrem Beispiel, Konventionen und den Respekt vor überpersönlichen Einrichtungen leichtfertig je nach ihren Bedürfnissen aufzukündigen, jeden dazu auffordern, es ihnen gleich zu tun. „Bis endlich aus der untersten der Tiefen / Ein Scheusal aufsteigt, grässlich anzusehen / … / Nach allem lüstern und durch nichts zu füllen. / Das ist die Hefe, die den Tag gewinnt, / Nur um den Tag am Abend zu verlieren“. Diese lauten Geist- und Willenlosen, die Massen, begehren nicht nur einen Teil, der ihnen angeblich zusteht, vielmehr das Ganze. „Sind wir die Mehrzahl doch, die Stärkeren doch, / Sind Menschen so wie ihr, uns unser Recht!“ Das ist die Ochlokratie, in die jede Demokratie unweigerlich übergehen muß, sobald sie die Besten, die Welterfahrenen und Lebensklugen, in den Hintergrund gedrängt hat, so daß ein besonnenes Handeln kaum noch möglich ist, „als eine Wirklichkeit, / Die stimmen soll zum Kreis der Wirklichkeit“. 

Dieser den klassischen Athenern immer gegenwärtige Sorge, daß auch die beste Verfassung umgedeutet und umgestürzt werden kann während der von Menschen bewirkten Veränderungen in den stets bewegten Zeiten, weichen heute die wahrhaften und wehrhaften Demokraten aus. Deshalb werden die Dramen Franz Grillparzers nicht mehr gespielt. Sie künden von unzulänglichem westlichen Wertebewußtsein und passen daher nicht mehr in die Zeit. Doch auch dieses Heute wird morgen zu einem Gestern. Darüber unterrichtet anschaulich Grillparzer. 

 www.franzgrillparzer.at