© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 20/22 / 13. Mai 2022

Rütteln an der Ein-China-Politik
Die Geschichte Taiwans zwischen Unabhängigkeitsbestrebungen und „abtrünniger Provinz“
Peter Kuntze

Am 31. März plädierte Lea Sahay, Peking-Korrespondentin der Süddeutschen Zeitung, für eine neue China-Politik: „Während Putin von einem russischen Großreich träumt, fabuliert Xi von angeblich historischen Ansprüchen auf Taiwan. (...) Er hat klargemacht, diese notfalls auch mit Gewalt durchzusetzen.“ Und ihr Redaktionskollege Thomas Fromm stellte am 23. April die Frage: „Was wäre im Fall einer chinesischen Taiwan-Invasion? Würden sich deutsche Manager der geopolitischen Doktrin Pekings anschließen, die Taiwan als festen Bestandteil des chinesischen Territoriums definiert?“

Selbst die EU-Kommission bestätigte jüngst Ein-China-Prinzip 

Schon mit ihrer Ausgangsbehauptung liegen beide Beobachter falsch. Weder „fabuliert“ Chinas Staats- und Parteichef von einem Anspruch auf Taiwan, noch handelt es sich nur um eine geopolitische Doktrin Pekings, daß die Insel chinesisches Gebiet sei. Am 25. Oktober 1971 stellte die Uno-Vollversammlung mit 76 Ja- bei 35 Nein-Stimmen und 17 Enthaltungen fest, daß der einzig legitime Rechtsnachfolger der 1912 gegründeten Republik China die seit 1949 in Peking residierende Volksrepublik ist, zu der als integraler Bestandteil die Inselprovinz Taiwan gehört (JF 43/21). Jeder Staat, der diplomatische Beziehungen zur Volksrepublik unterhält – und das sind bis heute nahezu alle Staaten der Welt – akzeptiert diese völkerrechtlich verankerte Ein-China-Politik. Zuletzt hatten sowohl US-Präsident Joe Biden als auch EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in ihren jüngsten Videogesprächen mit Xi Jinping die Ein-China-Politik ausdrücklich bestätigt. Biden versicherte am 19. März nach chinesischen Angaben, die USA würden eine „Unabhängigkeit“ Taiwans nicht unterstützen. Und EU-Ratspräsident Charles Michel sowie von der Leyen bekräftigten am 1. April auf Nachfrage Xi Jinpings ihr Festhalten am Ein-China-Prinzip.

Als Mao Tse-tung am 1. Oktober 1949 die Gründung der Volksrepublik verkündete, schien der Bürgerkrieg zwischen Kommunisten und Nationalisten beendet zu sein. Doch wegen der jahrzehntelangen Einmischung der USA in innerchinesische Angelegenheiten dauert er bis heute an. Historischer Ausgangspunkt ist die seinerzeitige Flucht der Truppen Tschiang Kai-scheks auf die dem Festland vorgelagerte Insel, die nicht viel größer als Baden-Württemberg ist und heute rund 23 Millionen Einwohner zählt. Tschiang machte Taipeh zum vorläufigen Sitz der Republik China, etwa zwei Millionen Anhänger folgten ihm ins Exil.

Mit Unterstützung der USA, so Tschiangs Kalkül, werde er eines Tages die Kommunisten vertreiben und wieder über ganz China herrschen. Denselben Anspruch erhoben auch Mao und seine Gefolgsleute und hofften auf die baldige Eingliederung Taiwans. Erst der Schiedsspruch der Uno von 1971 entschied den Streit, denn Tschiangs Träume waren so unrealistisch, daß selbst die US-Amerikaner ihm ihre Hilfe entzogen. Als sich am 5. April 1975 auf der Insel die Nachricht verbreitete, der Generalissimus und einstige Staatspräsident der Republik China sei im Alter von 88 Jahren gestorben, atmete die Mehrheit der Einheimischen auf.

Drei Jahrzehnte hatten sie unter dem Regime der Nationalen Volkspartei (Kuomintang, KMT) gelitten und vergeblich versucht, das als brutale Besatzung empfundene Joch abzuschütteln. Was mit Schlägen gegen eine Frau begann, die unverzollte Zigaretten verkaufte, eskalierte 1947 zu inselweiten Protesten. Die Aufständischen gründeten ein Revolutionskomitee und stellten eine Freiwilligen-Armee auf. Tschiang Kai-schek ließ daraufhin den Ausnahmezustand verhängen und entsandte Truppen, die den Volksaufstand am 28. Februar brutal niederschlugen. Bis heute gedenken Tausende jedes Jahr des „228-Massakers“, das nach Schätzungen bis zu 30.000 Todesopfer forderte.

Seit 1949 hatte Tschiang die Insel bis zu seinem Tod fest im Griff. Die gefürchtete Geheimpolizei unter Leitung seines Sohnes Tschiang Tsching-kuo tat ein Übriges. Alle Machtpositionen in Staatsapparat, Verwaltung und Armee waren in der Hand geflüchteter Festländer, keinem Taiwanesen gelang der Aufstieg in höhere Ämter. Angesichts dieses verschleierten Kolonialismus nahm es nicht wunder, daß immer wieder Rufe nach Unabhängigkeit laut wurden.

Im April 1964 trat die Widerstandsbewegung in ein neues Stadium. Peng Ming-min, Professor an der Nationaluniversität von Taipeh, veröffentlichte die „Proklamation der Unabhängigkeit Taiwans“. Kernpunkte des Manifests lauteten: „Es gibt ein China und ein Taiwan; Tschiang Kai-schek kann weder China noch Taiwan repräsentieren; Taiwan muß ein unabhängiger Staat mit demokratischer Regierung und Verfassung werden; die zu gründende Republik Taiwan soll Mitglied der Uno-Vollversammlung werden, während die Volksrepublik den Sitz im Sicherheitsrat erhält; die Republik Taiwan nimmt freundschaftliche Beziehungen zu Peking auf und erklärt feierlich, das Festland nicht zurückerobern zu wollen.“

Peng Ming-min, wegen Landesverrats zu einer Haftstrafe verurteilt, gelang 1970 die Flucht in die USA. Erst 1992, nach 22 Jahren im Exil, konnte er in die Heimat zurückkehren, die sich bis heute Republik China nennt. 1995 trat Peng der Demokratischen Volkspartei (DPP) bei, für die er 1996 bei der ersten freien Präsidentschaftswahl kandidierte. Er erhielt 21 Prozent der Stimmen; Lee Teng-hui, der Kandidat der Kuomintang, errang indes mit 54 Prozent die absolute Mehrheit. Nach dem Tod Tschiang Tsching-kuos im Jahr 1988, der nach dem Ableben seines Vaters den Ausnahmezustand aufhob, führte ein grundlegender Reformkurs der KMT zu einem Stimmungsumschwung in der Bevölkerung.

Diese Politik war von Erfolg gekrönt: 2008 gewann die KMT bei der Parlamentswahl 71 Prozent der Sitze, ihr Kandidat Ma Ying-jeou wurde zum Staatspräsidenten gewählt. Ma betrieb eine Politik der Annäherung an die Volksrepublik. Bereits beim „Konsens von 1992“ hatten KP und KMT die Ein-China-Politik bekräftigt und alle Unabhängigkeitsbestrebungen entschieden abgelehnt. 2012 konnte die KMT ihre absolute Mehrheit im Parlament behaupten; Ma wurde als Präsident wiedergewählt.

Peking setzt auf Zusammenarbeit mit der Kuomingtang

In den Folgejahren jedoch sank die Popularität der KMT so stark, daß ihr Vorsitzender Eric Chu 2016 die Wahl an Tsai Ing-wen verlor, die Kandidatin der Demokratischen Volkspartei. Vier Jahre später, 2020, triumphierten Tsai und ihre DPP erneut. Der nunmehr 97jährige Peng Ming-min erinnerte die Regierung sofort an sein Manifest von 1964 und forderte sie auf, eine Konferenz zur Etablierung einer „neuen Nation“ einzuberufen. Taiwan brauche eine neue Verfassung; jede Bezugnahme auf die längst untergegangene Republik China müsse beseitigt werden. Als unabhängige Republik solle Taiwan die Uno-Mitgliedschaft beantragen.

Im Kontrast dazu sandte Xi Jinping im September 2021 ein Telegramm an Eric Chu und gratulierte ihm zur Wiederwahl als KMT-Vorsitzender. KP und KMT, so Xi, sollten die guten Beziehungen zwischen beiden Seiten der Taiwan-Straße vorantreiben. Eric Chu dankte Xi und plädierte ebenfalls für eine verstärkte Zusammenarbeit auf dem Weg zu einer friedlichen Wiedervereinigung. Daß auch der Kampf um Taiwan in einer Tragödie wie in der Ukraine endet, ist indes nicht auszuschließen.






Peter Kuntze, ehemaliger Redakteur der „Süddeutschen Zeitung“, ist Autor des Buches „Chinas konservative Revolution oder Die Neuordnung der Welt“ (Schnellroda, 2014).

Foto: Anhänger der taiwanesischen Unabhängkeitsbewegung verbrennen eine Flagge der Republik China während einer Protestkundgebung anläßlich des Massakers Tschiang Kai-scheks von 1947, Taipeh 2017: Verschleierter Kolonialismus der vom Festland geflohenen Anhänger der Kuomingtang