© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 20/22 / 13. Mai 2022

Nur eine Meistererzählung
Die „Dekonstruktion“ von Tannenberg 1914: Der leitende Militärhistoriker der Bundeswehr legt eine neue Studie vor
Jürgen W. Schmidt

Der Leiter des Forschungsbereiches „Militärgeschichte bis 1945“ des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr in Potsdam, Oberstleutnant John Zimmermann, hat es unternommen, die operativ-taktische Lage, die in Ostpreußen 1914 zur Schlacht von Tannenberg führte, und die eigentliche Schlacht historisch-kritisch auf Grundlage des Aktenmaterials des Bundesarchivs/Militärarchivs in Freiburg zu untersuchen. 

Bei der Untersuchung stand für ihn die „Dekonstruktion im Vordergrund, insbesondere in ihrem Abgleich mit der Lesart der Meisterzählung“, die sich seit nunmehr hundert Jahren in der deutschen und internationalen Geschichtsschreibung etabliert hat. Diese „Meisterzählung“ hatte zum Inhalt, daß der Oberbefehlshaber der 8. Armee Generaloberst von Prittwitz mitsamt seinem Stabschef von Waldersee die Lage in Ostpreußen gründlich verpatzte und kurz vor einem panischen Rückzug auf die Weichsellinie stand. Da tauchte als Retter in der Not das Feldherrnduo Hindenburg-Ludendorff auf und machte aus einer gründlich verfahrenen Situation einen glanzvollen Sieg. 

Zimmermann kann eruieren, daß Prittwitz vom deutschen Generalstabschef keine eindeutigen Aufgabenstellungen erhielt und zwischen den beiden Optionen schwankte, sich entweder in Ostpreußen offensiv gegen die anstürmenden Russen zu verteidigen oder deren Ansturm an der Weichsellinie totlaufen zu lassen. Die Insubordination von unterstellten Korpskommandeuren, namentlich der Generale Hermann von François und August von Mackensen, erleichterten Prittwitz nicht seine ohnehin schwierige Aufgabe. Als er in einem Augenblick der Schwäche den Gedanken eines Rückzugs an die Weichsel prüfte, wanderte diese Information auf bislang ungeklärten Wegen blitzschnell zum deutschen Kaiser und zum Generalstabschef Helmuth von Moltke dem Jüngeren. 

Daraufhin wurde Prittwitz das Kommando entzogen, und Moltke sandte seinen besten Mann, nämlich Erich Ludendorff und den für seine gelassene Ruhe bekannten Paul von Hindenburg nach Osten. Doch schon vorher hatte Prittwitz den Moment der Schwäche überwunden und den Rückzug seiner Truppen so anordnen lassen, daß dieser den Auftakt der kommenden Tannenbergschlacht bildete. Ludendorff und Hindenburg griffen diesen operativen Gedanken nur auf, und begünstigt durch das mangelnde Zusammenwirken der beiden in Ostpreußen einfallenden russischen Armeen gelang es ihnen, beide Armeen sukzessive zu schlagen. 

Zimmermann erkennt an und das ist ohne Zweifel richtig, daß die Schlacht auch anders, nämlich mit einer deftigen deutschen Niederlage hätte enden können. Die Russen brauchten dazu nur etwas bessere Führungskunst, bessere Aufklärung und vor allem eine bessere Truppenversorgung. Das alles kommt dem Leser im Lichte des Ukraine-Krieges merkwürdig bekannt vor. Deshalb berührt es unangenehm, daß Zimmermann die russischen Kriegsgreuel aus dem Sommer 1914 in Ostpreußen zu relativieren sucht. Hätte er die zivilen Verwaltungsakten im Geheimen Staatsarchiv in Berlin genutzt, was er leider versäumte, dann hätten sich viele seiner Relativierungen von selbst verboten. Gleichfalls erstaunt, daß Zimmermann als habilitierter Militärhistoriker mancherlei Wissenslücken über geographische Gegebenheiten in Ostpreußen und den Aufbau und die Organisation der deutschen Streitkräfte im Ersten Weltkrieg aufweist. 

So taucht in Zimmermanns Darstellung ein über 3.000 (!) Mann zählendes preußisches Jägerbataillon auf und manches mehr. Auch über die russische Armee zeigt sich Zimmermann, der die russische Sprache nicht beherrscht und die neue russische militärhistorische Literatur folglich nur spärlich nutzen kann, schlecht informiert. Deshalb wendet er dem für Tannenberg zweifellos bedeutungsvollen Kapitel „militärischer Nachrichtendienst“ nur geringe Aufmerksamkeit zu. Er warnt zwar davor, den Einfluß der deutschen Funkaufklärung zu überschätzen, nutzte aber nicht die heute zugänglichen Aufzeichnungen des deutschen Professors Ludwig Deubner, der seinerzeit die russischen Führungsfunksprüche für Ludendorff und Hindenburg auffangen ließ und übersetzte. 

Ebenso geht Zimmermann mit keinem Wort auf die Vorkriegsleistungen des russischen Nachrichtendienstes ein, welcher die deutschen Generalstabsreisen in Ostpreußen genau beobachtete. Der russische Nachrichtendienst meldete dem damaligen russischen Generalstabschef Jakov Schilinski, daß man in Deutschland plante, von den beiden in Ostpreußen eindringenden, durch die masurischen Seen getrennten Kräftegrupperungen die eine hinzuhalten und die andere in dieser Zeit zu schlagen. Wer wenn nicht General Schilinski wußte also über die deutschen operativen Überlegungen Bescheid und tappte als Oberbefehlshaber der russischen Nordwestfront 1914 trotzdem in die Falle von Tannenberg. 

Wahrlich unbegreiflich, doch nicht für John  Zimmermann, der offenkundig darüber nichts wußte und so die russischen operativen Überlegungen bezüglich Ostpreußen außer acht läßt. Zimmermann teilt uns manche interessanten Informationen mit, wie sich die „Meisterzählung“ über das Feldherrnduo Hindenburg-Ludendorff in Deutschland bildete und man trotz besseren Wissens später im Reichsarchiv aus rein patriotischen Gründen daran nur intern zu rütteln wagte. Er bietet vielerlei neue Überlegungen, doch die ultimative Geschichte der Schlacht von Tannenberg hat er nicht verfaßt.

John Zimmermann: Tannenberg 1914. Der Erste Weltkrieg in Ostpreußen. Verlag de Gruyter/Oldenbourg, Berlin 2021, gebunden, 287 Seiten, Abbildungen 39,95 Euro

Foto. Hugo Vogel, Schlacht bei Tannenberg, Öl auf Leinwand 1917: Aus einer verfahrenen Situation einen glanzvollen Sieg gemacht