© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 20/22 / 13. Mai 2022

Analyse russisch-ukrainischer Gemeinsamkeiten
Problematischer Patriotismus
(dg)

Der westliche Blick auf den russisch-ukrainischen Krieg ist für Ulrich Schmid zu stark personalisiert und zu verengt auf die führenden politischen Kontrahenten in Moskau und Kiew. Das Gewicht, das den „Massen“ hüben wie drüben sowie den Eliten hinter Putin und Selenskyj in diesem Konflikt zukomme, so kritisiert der Professor für Kultur und Gesellschaft Rußlands (St. Gallen), werde hingegen ignoriert. So verkennen westliche Ratgeber, die ukrainische Unterhändler zu einem schnellen Friedensschluß ermuntern, daß dies einer Kapitulation gleichkäme (Forschung & Lehre, 4/2022). Das Volk, dessen Kampfmoral „enorm hoch ist“, würde sie daher als „Verräter“ ächten. Denn in der Ukraine kämpfen nicht nur die Soldaten der Armee, sondern viele einfache Bürger in den Territorialverteidigungsverbänden, die direkt dem Generalstab unterstehen, gegen dessen Willen Selenskyj keinen Frieden schließen könne. Auf der anderen Seite stehen 60 bis 90 Prozent patriotischer Russen loyal zu éinem Präsidenten, der aus ihrer Sicht Rußland in den letzten 30 Jahren vor dem Zerfall bewahrt habe. Ein ähnlich fester, nur für Westeuropäer „problematischer“, weil Wissenschaft als Staatsdienst verstehender  Patriotismus spreche aus der Solidaritätsadresse russischer Hochschulrektoren zum Einmarsch in die Ukraine. 


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