© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 20/22 / 13. Mai 2022

Charkow, Schlüssel zur Ukraine
Schlachtfelder von gestern und heute: Die Zerschlagung der sowjetischen Offensive im Mai 1942
Dag Krienen

Im Dezember 1941 war der deutsche „Weltblitzkrieg“ (Andreas Hillgruber) gegen die Sowjetunion gescheitert. Frische Truppen der Roten Armee hatten in den folgenden Monaten die Deutschen zurückgedrängt und in Bedrängnis gebracht. Nur mit drastischen Maßnahmen und unter hohen Verlusten gelang der Wehrmacht die Stabilisierung der Ostfront. Hitler zeigte sich rasch entschlossen, den Krieg gegen die Sowjetunion im Jahre 1942 durch eine neue Großoffensive in Richtung Wolga und Kaukasus weiterzuführen.

Doch vor Beginn dieses neuen großen Ostfeldzugs mußten die Deutschen im Frühjahr und Frühsommer 1942 noch eine Reihe von „Frontbereinigungen“ vornehmen, um ihre durch die vorangegangene sowjetische Winteroffensive teilweise arg zerfledderten Frontlinien zu verkürzen und einigermaßen zu begradigen. Bei der Heeresgruppe Nord gelang es im März, die über den Wolchow zum Ersatz Leningrads vorgestoßene sowjetische 2. Stoßarmee einzukesseln. Das Ausräumen des Kessels zog sich allerdings bis zum Juni hin. Im April stellte die Heeresgruppe die Landverbindung zum seit Februar bei Demjansk eingekesselten II. und X. Armeekorps wieder her. 

Bei der Heeresgruppe Mitte wurden vom Mai bis Juli in mehreren Operationen die im Rücken der deutschen 4. und 9. Armee bei Smolensk und Rschew stehenden sowjetischen Großverbände zerschlagen und eine erhebliche Frontverkürzung erzielt. Für die Eroberung Leningrads und die Herstellung einer geraden Front zwischen Demjansk und Rschew konnten hingegen nicht genug Kräfte bereitgestellt werden, da die Masse des Nachschubs an Material und Ersatzpersonal an die Heeresgruppe Süd ging und auch noch Divisionen der anderen Heeresgruppen an diese abgegeben wurden.

Die Heeresgruppe Süd hatte während der sowjetischen Winteroffensive zwar Rostow räumen müssen, ihr war es aber gelungen, weiter westlich eine zusammenhängende kurze Frontlinie zu halten. Damit verblieb praktisch die gesamte, wirtschaftlich sehr wichtige Ukraine unter deutscher Kontrolle. Die Wehrmacht hatte im Herbst 1941 mit der im Südwesten gelegenen Festung Sewastopol auch die Halbinsel Krim besetzt, die sowohl für den Zugang zur Ukraine als auch für die Kontrolle über das Schwarze Meer eine immense Bedeutung besitzt. Die Sowjets ihrerseits hatten im Winter auch den Versuch unternommen, die Krim zurückzuerobern und waren am 26. Dezember in einer der größten amphibischen Operationen ihrer Militärgeschichte mit Truppen auf der Landzunge von Kertsch gelandet. Deutschen und rumänischen Truppen war Anfang Januar 1942 die Abriegelung dieses Brückenkopfes gelungen, hatten dafür allerdings den schon begonnenen Angriff auf Sewastopol zunächst abbrechen müssen.

Bevor sie diesen fortsetzen konnten, mußten sie Kertsch zurückerobern. Dies gelang vom 8. bis zum 20. Mai 1942 in einer von Generaloberst Erich von Manstein geführten Überraschungsoffensive (Unternehmen Trappenjagd) gegen einen numerisch dreifach überlegenen Gegner, bei der nicht weniger als drei sowjetische Armeen mit 21 Divisionen vernichtet und 170.000 Rotarmisten gefangengenommen wurden, während die eigenen Verluste nur gering waren. 

Bei der sich anschließenden Eroberung Sewastopols ging von Manstein hingegen methodisch vor. Die Deutschen zogen alles, was sie nur an schweren Belagerungsgeschützen auftreiben konnten, vor der Festung zusammen, darunter auch die größte Kanone aller Zeiten, das Eisenbahngeschütz Dora mit einem Kaliber von 80 Zentimentern, das bei ihrem einzigen „scharfen“ Kriegseinsatz insgesamt 47 Granaten verschoß. Dank dieses massiven Artillerie- und auch Luftwaffeneinsatzes wurde Sewastopol vom 2. Juni bis zum 4. Juli erobert, wobei die deutsche und rumänische Infanterie einige Verluste erlitt. Die deutsche Herrschaft über die Krim war damit für fast zwei Jahre gesichert.

Zur gleichen Zeit wurde auch weiter nördlich bei Charkow (ukrainisch Charkiw) eine große Schlacht um den Zugang zur Ukraine geschlagen. Die Stadt war und ist ein Industriezentrum und Verkehrsknoten am Nordrand des Donezbeckens (Donbass). In diesem seit Herbst 1941 unter deutscher Kontrolle stehenden Gebiet, einem der wichtigsten Bergbau- und Industriezentren der Sowjetunion, wurden Kohle, Eisen- und Manganerz in großen Mengen gefördert und industriell verarbeitet. Charkow bildete ein Einfallstor, um entweder direkt in das Donezbecken einzudringen oder es durch einen weiteren Vorstoß zur Industriestadt Dnjepropetrowsk (ukrainisch derzeit: Dnipro) am Dnjepr im Rücken zu fassen.

Katastrophale Niederlage der Roten Armee bei Charkow

Tatsächlich hatte die Rote Armee bereits im Zuge ihrer Winteroffensive Anfang 1942 dies auch versucht und im Raum Isjum einen größeren Brückenkopf über den Donez erobern können. Weitere Vorstöße in Richtung Charkow hatte die Wehrmacht aufgehalten, allerdings nicht den rund 100 Kilometer breiten Brückenkopf selbst beseitigen können.

Die sowjetische Führung wollte die in der Winteroffensive gewonnene Initiative nicht aufgeben und nach der Schlammperiode im Frühjahr – die Schlammperioden (Rasputitza) im Frühjahr und im Herbst machten damals und wohl auch heute noch im wegearmen Osten jede größere raumgreifende militärische Operation unmöglich, wie die Wehrmacht im Oktober 1941 bei ihrem Vorstoß auf Moskau leidvoll erfahren mußte – wieder zur Offensive übergehen. Der wichtigste Stoß war im Raum Charkow geplant. Unter dem Kommando von Marschall Semjon Timoschenko sollten aus dem Brückenkopf von Isjum und einem kleineren bei dem weiter nördlich gelegenen Woltschansk (ukrainisch: Wowtschansk) heraus rund 640.000 Mann mit 1.200 Panzern und 900 Flugzeugen in Richtung Charkow angreifen und in einer Zangenbewegung die dortigen deutschen Truppen vernichten. Timoschenko plante, danach auf Dnjepropetrowsk vorzustoßen und die gesamte Heeresgruppe Süd vom Nachschub abzuschneiden.

Der sowjetische Großangriff und damit die Zweite Schlacht um Charkow (als erste gilt die deutsche Eroberung 1941) begann am 12. Mai 1942. Die Deutschen hatten mit einer sowjetischen Offensive in diesem Raum gerechnet und im Zuge der Vorbereitung ihrer großen Sommeroffensive bereits stärkere Kräfte bei der 6. Armee (Generaloberst Paulus) versammelt. Den zahlenmäßig dennoch weit überlegenen sowjetischen Truppen gelangen im ersten Anlauf aus beiden Brückenköpfen heraus größere Durchbrüche in Richtung Charkow. Mit Hilfe rasch herangeführter Fliegerkräfte gelang es den Deutschen, die sowjetischen Vorstöße weitgehend zu stoppen und Charkow zu halten. Bereits am 17. Mai eröffnete zudem die deutsche 1. Panzerarmee (Generaloberst Ewald von Kleist) einen Gegenangriff gegen die Südfront des Brückenkopfs von Isjum, der rasch Fortschritte machte und in Verbindung mit Vorstößen der 6. Armee von Norden her zur Einkesselung und bis zum 28. Mai zur Vernichtung der sowjetischen Angriffsverbände westlich des Dons führte. 

Die sowjetische Führung hatte den deutschen Gegenstoß zunächst ignoriert und die Offensive in Richtung Charkow bis zum 19. Mai fortgesetzt. Zu spät stellte sie ihre Truppen um, es blieben nur verzweifelte Versuche zum Ausbruch aus dem Kessel, die unter hohen Verlusten scheiterten. Die Wehrmacht hatte der Roten Armee erneut – wie sich zeigen sollte, ein letztes Mal – eine große katastrophale Niederlage zugefügt. Sie meldete 240.000 Gefangene und 1.250 zerstörte oder erbeutete Panzer. Schätzungen zur Höhe der blutigen Verluste der Roten Armee gehen von bis zu 75.000 Gefallenen und noch mehr Verwundeten aus. Auf deutscher Seite betrugen die Verluste rund 20.000 Tote, Vermißte und Verwundete.

Die zweite Schlacht um Charkow sollte nicht die letzte sein, dafür war die strategische Lage der Stadt zu bedeutend. Eine dritte Schlacht wurde im März 1943 geschlagen, als von Manstein bei seiner Gegenoffensive gegen die nach dem Sieg bei Stalingrad nach Westen vorgedrungene Rote Armee die Rückeroberung der Stadt gelang. Die Sowjets nahmen sie im Zuge ihrer Sommeroffensive im August 1943 (Vierte Schlacht) endgültig wieder ein. 

Foto: Vormarsch deutscher Panzer in der Ukraine auf Knüppeldämmen, Mai 1942: In der wegearmen Ostukraine war jede größere raumgreifende militärische Operation schwierig