© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 20/22 / 13. Mai 2022

Plädoyer für die nationale Souveränität
Das SPD-Urgestein Klaus von Dohnanyi blickt kritisch auf allzu zentralistische Vorstöße innerhalb der Europäischen Union
Peter Seidel

Wenn man in Deutschland ein Buch mit dem Titel „Nationale Interessen“ veröffentlicht, darf man sich über verhaltene Rezensionen nicht wundern. Klaus von Dohnanyi hat ein solches Buch geschrieben. Das 93jährige SPD-Urgestein verweist darin auf Defizite in der deutschen politischen Kultur, verkennt aber ein heute entscheidendes Manko: die Berliner Sicherheitspolitik.

Das Buch widmet sich vorrangig der Europapolitik und enthält dazu auch zahlreiche berechtigte kritische Hinweise, etwa zur Rolle des Europäischen Gerichtshofs oder der EU-Kommission. Im Zentrum aber steht zu Recht Dohnanyis Beurteilung deutscher Europapolitiker, die „den europäischen Fortschritt durch immer mehr Zentralisation und Regeln auf Kosten nationaler Souveränität erzwingen“ wollten, ein bisher durchaus unüblicher Kritikpunkt eines gestandenen ehemaligen deutschen Spitzenpolitikers. Dies gilt auch für seinen klaren Hinweis darauf, es sei „politisch immer klüger, man überläßt wichtige Entscheidungen nicht einer Mehrheit, sondern der Einstimmigkeit im Rat“. Kein Mitgliedsstaat würde sich in existentiellen Fragen durch Mehrheiten überstimmen lassen, etwa in der Finanzpolitik. Das gilt aber genauso für die Sicherheits- und Verteidigungspolitik, weshalb Experten auch für einen europäischen Sicherheitsrat mit Vetorecht plädieren.

Dohnanyis Fazit: „Deutschlands nationales Interesse in Europa sind deswegen eindeutig nicht die Vereinigten Staaten von Europa, sondern es ist eine evolutionär fortschreitende Konföderation“, eine klare Absage an entsprechende Passagen in der Koalitionsvereinbarung der Ampel-Regierung! Als ehemaliger Vorsitzender des Koordinierungs-Ausschusses der Staatssekretäre unter Bundeskanzler Helmut Schmidt ist Dohnanyi ein Kenner der europapolitischen Materie.

Anders sieht es bei der Sicherheitspolitik aus. Auch heute steht Dohnanyi hier unter dem Eindruck seiner Teilnahme an einer Nato-Militärübung Ende der siebziger Jahre, die ihm damals schlagartig die damalige Gefährdung des geteilten Deutschlands im Kalten Krieg bewußt machte – konventionell wie nuklear. Daraus dürfte sich auch seine noch in der Rückschau einseitige Glorifizierung der damaligen SPD-Rußlandpolitik erklären: „Nur“ Entspannungspolitik könne die Kriegsgefahr in Europa verringern, „nur“ Diplomatie und Zusammenarbeit mit Rußland könnten Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa schaffen. Dies ignoriert völlig die Erfahrung, daß erst Verteidigungsfähigkeit und Abschreckung den damaligen Erfolg der Diplomatie ermöglichten, ein Defizit, das er mit der Mehrheit seiner Partei bis heute teilt. Seine sicherheitspolitischen Folgerungen offenbaren deshalb die tiefe Orientierungslosigkeit und Verunsicherung deutscher politischer Führungsschichten, die nach wie vor Zuflucht im „Weiter so“ suchen, als ob sie dies in den Genen hätten. Und beileibe nicht nur die SPD hätte ein sicherheitspolitisches „Godesberg“ bitter nötig, aber auch andere Parteien, deren bedingungsloser Atlantizismus heute längst an seine Grenzen stößt. 

Dohnanyi betont, daß nationale Interessen kein Nationalismus sind

Typisch dafür ist seine Vorstellung, am besten sei es und „immer sicherer, sich nicht einzumischen in Konflikte der Großen und sich auch nicht durch eine Allianz zu binden“. Eine neue deutsche „Ohne mich“-Haltung. Vorbei offenbar die alte SPD-Vorstellung von der „Selbstbehauptung Europas“. Stattdessen die Reduzierung der EU auf Wirtschaftsfragen: Europa könne „nur“ als Wirtschaftsmacht bestehen. Die mangelnde Tragfähigkeit dieses Ansatzes zeigen heute die Wendehalsqualitäten derer, die als ehemalige Wehrdienstverweigerer angesichts des Ukraine-Krieges plötzlich die Bellizisten und hundertfünfzigprozentigen Atlantiker geben, von „nationalen Interessen“ aber nach wie vor nichts wissen wollen. Da kann man Dohnanyi nur zustimmen, wenn er mit Blick auf die Usancen in der Welt und in Europa hervorhebt: „Nationale Interessen sind kein Nationalismus“.

Sein Buch ist eindeutig eines des Übergangs von einer Epoche in eine neue. Ähnlich wie damals die deutsche Wiedervereinigung und das Ende des Kalten Krieges hat heute der Ukraine-Krieg viele vermeintliche Gewißheiten überholt und als aktuelle Irrtümer angezeigt: Dies gilt heute vor allem für die Einschätzung militärischer Macht, ohne die jeder Diplomatie der Unterbau fehlen muß. Dies zeigt aber auch nicht zuletzt Dohnanyis Gespaltenheit, wenn er einerseits einen bundesdeutschen „Verfassungspatriotismus“ als „zweifelhaft“ und wenig hilfreich beurteilt, „denn für das Nationalbewußtsein ist mehr erforderlich als die Berufung auf eine Verfassung“, andererseits aber NS-Verbrechen als Taten bezeichnet, „die die Nation als solche in Schuld belassen“: „Das ist ein Faktum, und wir müssen das auch akzeptieren.“ Nein, das ist kein Faktum, die Kollektivschuldthese wird schon lange mehrheitlich als falsch angesehen. Wieso sie dann wieder aufwärmen, unter Bedingungen, die seinen  vorigen Aussagen fundamental widersprechen?  

Länder wie Japan oder Südkorea sind trotz aller historischen Hypotheken schon viel weiter, gerade auch bei der Verteidigungs- und Abschreckungspolitik. Doch aller Anfang ist bekanntlich schwer. Dohnanyi kommt das Verdienst zu, als erster namhafter deutscher Politiker damit begonnen zu haben, die eine oder andere heilige Kuh zu schlachten, zumindest in der Europapolitik. Dies wiegt manche überkommene Fehler in der Sicherheitspolitik zwar nicht auf, wird als Verdienst aber bleiben und macht sein Buch lesenswert. Andere Autoren werden auf seinem Weg folgen und fortsetzen, was Dohnanyi mit diesem Buch begonnen hat.

Für den Verlag, der das Buch nun schon in zweiter Auflage herausgegeben hat, gilt: In deutlichem Widerspruch zu Dohnanyi, der eine Aufnahme der Ukraine in Nato und EU klar ablehnt, zeigt die Titelseite eine Karte von Europa, in die nicht nur die Ukraine, sondern auch Transnistrien, die Türkei, Moldawien und selbst Weißrußland eingemeindet sind. Dohnanyi deutet im Buch gegenteilig sogar an, daß er die Ost-Erweiterung der Nato nach 1990 kritisch einschätze, da die damit vom Westen bewußt in Kauf genommene Degradierung Rußlands zur Regionalmacht dort als Provokation aufgenommen werden konnte. Soviel Wirrnis kann durchaus als Zeichen des Übergangs gelten, die selbst vor Verlagen nicht haltmachen, wenn alte Gewißheiten schwinden und neue sich erst etablieren müssen. 

Klaus von Dohnanyi: Nationale Interessen. Orientierung für deutsche und europäische Politik in Zeiten globaler Umbrüche. Siedler Verlag, München 2022, gebunden, 240 Seiten, 22 Euro

Foto: Der ehemalige Hamburger Bürgermeister Klaus von Dohnanyi 2008: Ost-Erweiterung der Nato stellte eine unnötige Provokation Rußlands dar