© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 20/22 / 13. Mai 2022

Frisch gepreßt

Späte Einsicht. „Kaum eine Journalistin analysiert die Situation von Familien und Kindern so kontinuierlich und präzise wie Sabine Rennefanz“, wirbt der Verlag für die Kompetenz seiner Autorin, die dieses Leib- und Magenthema vor dem Hintergrund der vergangenen Corona-Jahre beleuchtet. Allzu viel von der ihr attestierten Präzision darf der Leser freilich schon deshalb nicht erwarten, weil sie als langjährige Redakteurin der Berliner Zeitung, als Mitarbeiterin des Tagesspiegels und emsige Kommentatorin in den GEZ-Medien nicht gewöhnt ist, dem Zeitgeist allzu sorgfältig den Puls zu fühlen. Das klingt in den hier publizierten Fragmenten einer Eloge auf die oft von ihr bejubelten „pragmatische Krisenkanzlerin“ Merkel an, der sie im Juni 2020 wünschte, ihre Amtszeit möge niemals enden. Erst während der Corona-Pandemie näherte Rennefanz sich, wie das letzte Kapitel verrät, sukzessive einer realistischen Bewertung dieser „großen Katastrophengestalt der deutschen Geschichte“ (Rolf Peter Sieferle). In der Pandemie habe sich leider gezeigt, daß zu den zahlreichen Politikfeldern, die ihr „egal“ waren, auch die Familienpolitik zählte. „Merkel ließ es laufen“, denn auch auf diesem Sektor fehlte ihr, so lautet Rennefanz’ späte Einsicht, „ein eigener politischer Kompaß“. (ob)

Sabine Rennefanz: Frauen und Kinder zuletzt. Wie Krisen gesellschaftliche Gerechtigkeit herausfordern., Ch. Links Verlag, Berlin 2022, broschiert, 144 Seiten, 18 Euro





Justizirrtum. Für Kardinal George Pell, 1941 in Victoria geboren, liegen seine besten und schlimmsten Stunden wohl so weit voneinander entfernt wie Italien und Australien. Im Jahr 2003 ist Pell vom damaligen Papst Johannes Paul II. zum Kardinal ernannt worden. Doch am 29. Juni 2017 kommt für Pell der Schock, als die australische Polizei ihm sexuelle Übergriffe aus seiner Vergangenheit vorwirft. Alle Vorwürfe streitet der Kardinal ab. Es folgt ein juristisches Auf und Ab, das am 11. Dezember 2018 mit einem Schuldspruch für Pell endet. Von nun an ist der Kardinal in der ehemaligen Sträflingskolonie selbst Sträfling. Doch in der nebulösen Lage kommen Hoffnungsstrahlen zutage. Statt als Täter erscheint er immer mehr als Opfer eines Justizirrtums.Etliche Juristen fordern, daß die Entscheidung des Gerichts wegen politischer Voreingenommenheit revidiert wird. Schließlich verkündet am 7. April 2020, wenige Tage vor Ostern, das oberste Gericht in Canberra die frohe Botschaft: Der 78jährige wird aus der Haft entlassen. Wer katholische Geistliche wegen verbreiteter Mißbrauchsfälle nicht gleich über einen Kamm schert, sollte sich unbedingt Pells zweiten Band seiner Odyssee zulegen. (fox)

George Kardinal Pell: Die Berufung wurde abgewiesen. Das Gefängnistagebuch, Band II. Verlag Media Maria, Illertissen 2022, gebunden, 384 Seiten, 22 Euro