© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 20/22 / 13. Mai 2022

Der Flaneur
Nichts dazugelernt
René Langner

Mitten im Supermarkt stehe ich vor gut gefüllten Regalen mit alkoholischen Getränken. Neben mir wird es plötzlich etwas lauter. „Wodka kaufen wir natürlich nicht!“, poltert die junge Dame ihren Begleiter an. Ich greife zu meinem Lieblingswein und ziehe weiter.

Ein paar Minuten später stehe ich beim Bäcker. Zum Kaffee bestelle ich russischen Zupfkuchen. Recht schroff teilt mir die Verkäuferin mit, daß dieser jetzt einen anderen Namen hat.

Obwohl ich prinzipiell nicht dazu neige, mir größere Gedanken über die Aussagen meiner Mitmenschen zu machen, beschleicht mich nun doch so langsam ein Gefühl von Unbehagen.

Sollten die Grenzen zwischen einer gut gemeinten Solidarität und der Ausgrenzung bestimmter Menschen erneut derart stark verwischen? Haben nicht die letzten Monate ausgereicht, um uns zu verdeutlichen, daß die durch Politik und Medien forcierte Strategie der Angsterzeugung massiv zur Stigmatisierung oder gar zum Ausschluß ganzer Bevölkerungsgruppen beigetragen hat?

So wählte bereits Kant den bedachten Satz „Der Friede ist das Meisterstück der Vernunft“.

Als mir am nächsten Tag meine russische Kollegin unter Tränen mitteilt, welchem Druck selbst ihre eigenen Kinder in Schule und Verein ausgesetzt sind, wird meine Vermutung zur Gewißheit.

Und so frage ich mich, woran es liegen mag, daß gerade unsere Gesellschaft immer wieder den klassischen Denkmustern von „Gut und Böse“ oder „Schwarz und Weiß“ erliegt? Ist es wirklich nur auf die mediale Dauerbeschallung zurückzuführen oder steckt dahinter doch viel mehr?

Keine Frage, Politik und Menschen sind gefordert, sich klar gegen politische Aggression zu stellen und demnach zu agieren. Aber eine Hexenjagd auf Menschen, die uns doch in voller Gänze vertraut sein sollten, das Meiden von gastronomischen Einrichtungen, ein Boykott von Musik und Kultur oder gar die offene Zustimmung für einen Ausschluß behinderter Sportler an Veranstaltungen, die eigentlich der Völkerverständigung dienen sollten, wecken – zumindest in mir – allerschlimmste Assoziationen.

So wählte bereits Immanuel Kant den bedachten Satz „Der Friede ist das Meisterstück der Vernunft“. Ob er sich dabei das Bekenntnis einer aufgeklärten Nation gegen Ausgrenzung und Spaltung wünschte, kann ich nicht beurteilen. Für eine Gesellschaft, die sich ihrer Verantwortung bewußt ist, sollten diese Worte aber zumindest eins sein: Antrieb und Mahnung zugleich.