© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 21/22 / 20. Mai 2022

Glanz und Elend an Rhein und Ruhr
Landtagswahl: Nordrhein-Westfalen dürfte bald schwarz-grün regiert werden /Aufruhr in der AfD
Jörg Kürschner / Christian vollradt

Das Wahlergebnis in Nordrhein-Westfalen erschwert die Arbeit in der Ampel-Koalition in Berlin, befördert das Selbstbewußtsein der Union sowie den Machtkampf in der AfD und beschleunigt den Niedergang der Linken. Ob in Düsseldorf, wie vielfach erwartet, künftig eine schwarz-grüne Koalition regiert oder doch ein Ampel-Bündnis, ist noch offen. 

Die Ampel-Wahlverlierer zeigten sich durchaus selbstkritisch. Gescheitert im Saarland, verloren in Schleswig-Holstein und jetzt in NRW. FDP-Chef Christian Lindner („Die Tränen sind getrocknet“) sieht in dem „desaströsen Ergebnis“ auch inhaltliche Gründe. Stichwort Gerechtigkeit. Rentner sollen die Pauschale von 300 Euro als Teil des Entlastungspakets nicht erhalten, was fälschlicherweise den Liberalen angelastet worden sei, mit der absehbaren Folge eines „dramatischen Einbruchs“ bei den Wählern über 60 Jahren. Zunächst hatte es am Wahlabend so ausgesehen, als ob die FDP sogar aus dem Landtag fliegen könnte. In Lindners Nachbetrachtung fiel auch der Satz: „Die Ampel war nicht unser Wunschtraum“, doch der Bundesfinanzminister ließ Vermutungen, die Liberalen stellten die Koalition in Frage, nicht aufkommen. Keine Fliehkräfte. „Wir sind vertragstreu.“ Und er machte auch kein Hehl aus seiner Ansicht über eine mögliche Koalition von SPD, Grünen und FDP in Nordrhein-Westfalen. „Eine Ampel hätte keine innere Legitimation“.

Denn die SPD hat trotz des erheblichen Abstands von neun Prozent zum Wahlsieger CDU ihre Hoffnung auf die Staatskanzlei in Düsseldorf noch nicht aufgegeben. Bundeskanzler Olaf Scholz lakonisch: „Die Parteien, die in Berlin die Bundesregierung stellen, haben eine Mehrheit im Landtag. Vielleicht ergibt sich daraus ja auch was.“ Es sei in der Geschichte Deutschlands schon ziemlich oft vorgekommen, daß nicht die stärkste Partei den Regierungschef stellt. Ein Spiel mit verteilten Rollen. Denn SPD-Bundeschef Lars Klingbeil versuchte mit dem Hinweis, die bisherige schwarz-gelbe Koalition habe ihre Mehrheit verloren, das unerwartet hohe CDU-Ergebnis gewissermaßen als Teilsieg zu relativieren und die Ausgangsposition von CDU-Ministerpräsident Hendrik Wüst zu schwächen. Er habe das Recht, als erster Gespräche über eine neue Regierung zu führen. Führe dies nicht zum Erfolg, stehe die SPD aber bereit, „Verantwortung zu übernehmen“. Inhaltlich gestand Klingbeil ein: „Wir haben zuwenig über gestiegene Lebenshaltungskosten und zu wenig über gestiegene Energiepreise“ gesprochen.“ Und Scholz? Der Bundeskanzler hatte sich stark im Wahlkampf an Rhein und Ruhr engagiert. Vergebens. Das Ruhrgebiet als „Herzkammer der SPD“ war gestern. Eine Mitschuld an dem schlechten Ergebnis trage er aber nicht. Dafür wurde Gesundheitsminister Karl Lauterbach gerüffelt. Er hatte die Niederlage der SPD offen eingeräumt. „Strategisch unglücklich“, tadelte die Parteispitze im Willy-Brandt-Haus.

Dort blickt man neidisch auf den Wahlerfolg der Grünen, der den Analysen zufolge wesentlich auf die Zugkraft ihrer Bundesminister Robert Habeck und Annalena Baerbock zurückgeht. Deren Kommunikation, gemeint ist der Dialog mit den Wählern, wird überall gelobt, ohne Umschweife in der Unionsfraktion. Daß diese Popularitätswerte wichtig waren für die Verdreifachung des Ergebnisses, scheint naheliegend, da Spitzenkandidatin Mona Neubaur kaum bekannt war, nicht einmal über ein Landtagsmandat verfügte und jetzt als Königsmacherin gilt. Die 44jährige Diplom-Pädagogin legte sich zunächst zu Koalitionsmöglichkeiten nicht fest, sagte aber auch, die Grünen seien bereit für „Konstellationen, wo es weite Wege zu gehen gäbe“. „Rote Linien formulieren wir nicht.“ Spricht da die künftige Wüst-Vertreterin im schwarzgrünen Kabinett?

Das sind Äußerungen, die in der CDU aufmerksam registriert wurden. CDU-Verhandlungsführer Wüst wird nicht müde, den Grünen Avancen zu machen. „Der neuen Regierung muß es um die Versöhnung von Klimaschutz und Industrie gehen“, sagt er ununterbrochen in jedes Mikrophon. Gelingt dem 46jährigen die Bildung einer schwarz-grünen Koalition, steigt sein Marktwert in der CDU-Richterskala. Was Bundeschef Friedrich Merz als alter Politfuchs längst erkannt hat. „Wir sind zurück auf Platz eins“, rief er selbstbewußt im Konrad-Adenauer-Haus, neben ihm Wüst. Gehört der zur neuen CDU-Führungsreserve als Kanzlerkandidat im Wartestand? 

„Werden zunehmend als Außenseiter wahrgenommen“

Das Wahlergebnis der AfD zeige, „daß wir im Bundestrend bei den großen Themen wie Impfpflicht, Eskalationsvermeidung im Ukraine-Krieg und Umkehr in der desaströsen Energiepolitik nicht die Ernte unserer Oppositionsarbeit einfahren konnten“, bilanzierte der ehemalige Landesvorsitzende Rüdiger Lucassen noch am Wahlabend. „Allein die solide Arbeit der Landtagsfraktion und ein gut aufgestellter Landesverband, die die letzten Jahre konstruktiv zusammengearbeitet haben, konnte für NRW den Bestand einer nationalkonservativen Opposition im Düsseldorfer Landtag sichern“, betonte er gegenüber der JUNGEN FREIHEIT.

Was mit mageren 5,4 Prozent und einem blauen Auge gerade noch geklappt hatte, kommentierte AfD-Chef Tino Chrupalla mit der Bemerkung, er sei mit dem Ergebnis nicht „in Gänze“ zufrieden. Doch da hatten sich seine zahlreicher werdenden innerparteilichen Gegner längst formiert, mochte er auch eine „Initiative West“ für den Parteitag Mitte Juni im sächsischen Riesa ankündigen. Bundesvorstandsmitglied Joana Cotar hat Mitstreiter um sich geschart und spricht Klartext: „Tino Chrupalla und sein Team haben versagt“, resümierte sie am Tag nach der Wahl gegenüber Journalisten. In seine Amtszeit ab November 2019 fielen neun Wahlniederlagen, darunter der gescheiterte Wiedereinzug in den Kieler Landtag. 

Schon am Vormittag, quasi zeitgleich zum Auftritt des Parteichefs, hatte sich die Fronde gegen ihn öffentlichwirksam mit harscher Kritik zu Wort genmeldet: „Mit Tino Chrupalla endete die Erfolgsgeschichte der AfD.“ Der sächsische Politiker bilde „weder die gesamte Partei ab, noch überzeugt er bei den Wählern“, kritisierten sie und forderten: „Darum darf er als Bundessprecher nicht noch einmal antreten.“ Auch Bundesvorstandsmitglied Alexander Wolf ging den Parteivorsitzenden scharf an: „Wir werden zunehmend als Außenseiter wahrgenommen.“ Die Aussage „Frieden schaffen ohne Waffen“ sei „eine Kirchentagsparole, nicht die Position der AfD“, monierte Wolf. Dieser Kurs sei „ein Irrweg“.

Der so angegangene Parteichef konterte darauf, seine Gegner beklagten eine „Kakophonie“ in der Parteiführung, die sie selbst zu verantworten hätten. Und sorgte mit einem drastischen Vergleich für Heiterkeit bei den Journalisten – und für Kopfschütteln bei Parteifreunden: Es sei „wie früher beim Camping, da haben sich immer diejenigen beschwert, daß es naß im Zelt ist, und es waren diejenigen, die auch ins Zelt gepinkelt haben“. Gerade beim Thema Ukraine habe sich seine Position als richtig erwiesen, bekräftigte er, obwohl  laut einer Nachwahlbefragung nur 43 Prozent der AfD-Wähler in NRW es gut fanden, „daß die AfD Verständnis für die russische Position im Ukraine-Krieg“ zeige. 

Chrupalla hält auch ungeachtet aller Kritik an seiner Kandidatur fest. Er plane, mit einer „Konsens-Liste“ auf dem Parteitag in vier Wochen anzutreten. Auch seine innerparteilichen Gegner schnüren hinter den Kulissen ein Personalpaket. „Wir haben für jeden Posten einen geeigneten Bewerber“, teilten sie Montag abend mit, konkrete Namen wollte man jedoch noch nicht nennen. Daß ihr Angriff auf den Parteichef am Tag nach der Wahl die Schlagzeilen dominierte sorgte innerhalb der AfD für reichlich Kopfschütteln selbst bei denen, die nicht als Anhänger Chrupallas gelten. 

Doch Cotar und Co. betonen, sie hätten lange genug, doch ohne Gehör die Mißstände zur Sprache gebracht. Man sei „in brennender Sorge um die Partei“, so Wolf, und habe deswegen den Weg in die Öffentlichkeit gewählt. Wie viele Unterstützer sie haben, blieb auch nach dem Pressegespräch unklar. Es gebe prominente Mandatsträger, die ebenso hinter dem Vorstoß stünden, zudem habe man ein großes positives Echo auch in den sozialen Netzwerken erhalten. Chrupalla dagegen sagte mit Blick auf seine Kollegen Cotar und Wolf: „Dies ist noch ein Meuthen-Vorstand“, der nicht die Gesamtpartei repräsentiere.

Am Dienstag entmachtete unterdessen die neue Landtagsfraktion in Düsseldorf ihren bisherigen Vorsitzenden und Spitzenkandidaten Markus Wagner (JF 20/22). Er fiel bei der Wahl mit vier Ja- und sieben Nein-Stimmen durch. Als seinen Nachfolger wählten die Abgeordneten Landeschef Martin Vincentz.

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Foto: Grünen-Spitzenkandidatin Mona Neubaur und Hendrik Wüst (CDU) beglückwünschen sich gegenseitig am Wahlabend: „Rote Linien formulieren wir nicht“