© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 21/22 / 20. Mai 2022

Im Westen nichts Neues
Syrien: Während die arabische Welt die Regierung Assad fast schon hofiert, sehen ihn die USA und die EU weiterhin als Persona non grata / Brüssel schnürt Sechs-Milliarden-Hilfspaket
Marc Zoellner

Noch immer befindet sich jeder zweite Syrer auf der Flucht: „Über zwölf Millionen Zivilisten wurden bereits gewaltsam aus ihrer Heimat vertrieben“, mahnte Janez Lenarčič, EU-Kommissar für humanitäre Hilfe und Krisenschutz, in seiner Rede zur Eröffnung der EU-Geberkonferenz vergangene Woche in Brüssel. Zum sechsten Mal trafen sich auf dieser Zusammenkunft neben den EU-Staaten sowie jenen weltweit, in denen syrische Flüchtlinge Unterkunft fanden, auch Vertreter von humanitären Nichtregierungsorganisationen wie dem Roten Kreuz und dem Roten Halbmond. Dieses Jahr markierte der 11. Jahrestag des Kriegsbeginns in Syrien eine besonders tragische Zäsur; immerhin benötigten derzeit „fast fünfzehn Millionen Syrer dringlichst humanitäre Hilfe“, betonte Lenarčič. „Über eine Million mehr als im vergangenen Jahr.“

VAE: Die territoriale Einheit Syriens muß bewahrt bleiben 

Als wichtiges Signal, daß die internationale Staatengemeinschaft das syrische Volk auch über den Ukraine-Krieg nicht vergessen habe, bewertete Josep Borrell, der Hohe Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, die diesjährige Geberkonferenz. „Neunzig Prozent aller Syrer innerhalb Syriens leben in Armut“, warb Borrell die Teilnehmer um finanzkräftige Unterstützung. „Neunzig Prozent, das bedeutet fast jeder, ausgenommen die Clique um Baschar al-Assad“, Syriens seit 22 Jahren regierenden Alleinherrscher. Für die Gastgeber der Konferenz war von spezifischer Bedeutung, die gestifteten Hilfsgelder dem syrischen Volk zukommen zu lassen, ohne daß al-Assad und dessen Baath-Partei von den Finanzströmen profitieren könnten.

Am Ende des Tages gelang der Brüsseler Konferenz immerhin die Akquise an Zusagen ihrer Teilnehmer in Höhe von rund 6,4 Milliarden Euro, allerdings unter dem Vorbehalt der Bindung vieler Spenden an Programme, die über mehrere Jahre laufen werden. Für dieses Jahr stehen lediglich 1,7 Milliarden Euro zur Verfügung. 

Größter Spender nach der EU bleibt Deutschland mit etwa 800 Millionen Euro, rund 150 Millionen Euro weniger als noch 2021. Die USA, die im vergangenen Jahr Hilfsgelder in Höhe von 700 Millionen Euro für Syrien zusagten, in der Folge jedoch mehr als 1,6 Milliarden Euro auszahlten, ließen sich auf der Brüsseler Konferenz ebensowenig festlegen wie das Emirat Katar, das den Syrern im vergangenen Jahr eine Hilfsspende von 100 Millionen US-Dollar versprach, von der allerdings nur 40 Millionen US-Dollar bei syrischen Bedürftigen ankamen. Auch die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) hielten sich diesen Mai mit Zusagen bedeckt.

Dieser offenkundige Sinneswandel der arabischen Staaten auf der Geberkonferenz dürfte nicht von ungefähr kommen: Gerade die VAE erachten die europäische Politik der Sanktionierung und politischen Isolierung des syrischen Machthabers al-Assad als mittlerweile komplett gescheitert. Statt dessen versucht sich Abu Dhabi in einer Diplomatie der schrittweisen Öffnung hin zur Normalität im Umgang mit der Regierung in Damaskus. 

Bereits Mitte März hatte Muhammad bin Zayid Al Nahyan Baschar al-Assad zum Staatsbesuch nach Abu Dhabi eingeladen. Damaskus zelebrierte die Reise, immerhin die erste al-Assads in einen anderen arabischen Staat seit elf Jahren, als diplomatischen Glanzsieg. Muhammad bin Zayed wiederum gab seiner Hoffnung Ausdruck, ihr Treffen würde „den Weg bereiten, damit Gutmütigkeit, Frieden und Stabilität in Syrien und der gesamten Region herrschten“, so der Scheich. Ihre „brüderlichen Beziehungen“ seien Themen des Gesprächs gewesen, ebenso wie „die Bewahrung der territorialen Einheit Syriens, der Abzug ausländischer Truppen aus dem Land“ sowie die „politische und humanitäre Unterstützung für Syrien“.

Tatsächlich könnten beide Staaten gleich mehrfach von einer Kooperation profitieren: Mit einem Volumen von rund 250 Millionen Euro außerhalb des Rohstoffmarktes sind die Emirate im ersten Halbjahr 2021 zum wichtigsten Handelspartner Syriens avanciert. Mit Rußland und dem Iran allein ließen sich Syriens Verbündete in der Region bislang überdies an einer Hand abzählen, weswegen Damaskus sich Abu Dhabi als neuerlichen Türöffner in die arabische Welt und für die Wiederaufnahme in die Arabische Liga wünscht. 

Für die Emirate zählt neben den wirtschaftlichen insbesondere der sicherheitspolitische Aspekt, als hegemoniales Gegengewicht den Einfluß des Iran in Syrien einzudämmen, der mittels der Huthi-Milizen im Jemen einen Stellvertreterkrieg nicht nur gegen Saudi-Arabien, sondern auch gegen die VAE führt. Eine Rehabilitierung Syriens in der Arabischen Liga, und hier zeigen sich beide Regierungen einig, bräche überdies die Dominanz des Iran über die inneren Angelegenheiten des syrischen Staates.

Des Umstands, daß gerade die iranische Truppenpräsenz in Syrien die alleinige Garantie für eine fortwährende Absicherung der Assad-Regierung darstellt, ist sich Damaskus dabei bewußt. 

Anfang Mai besuchte al-Assad  Teheran, um bei einem Treffen mit dem religiösen Führer des Iran, Ayatollah Ali Khamenei, seine Verbundenheit mit der iranischen Regierung zu beteuern. Von den VAE erwarten internationale Beobachter derweil die Unterbreitung eines lukrativen Angebots an Saudi-Arabien, damit das Land seinen Einspruch gegen eine Wiederaufnahme Syriens in die Arabische Liga  überdenkt. Immerhin ist das nächste Spitzentreffen der Liga schon für November in Algerien angesetzt. 2024 soll Syrien überdies bereits die Energiekonferenz der arabischen Staaten ausrichten.

Großteil der Hilfsgelder soll in die Region Idlib fließen

Die USA sind über diese Entwicklung nicht erfreut. Bereits 2020 hatte James Jeffrey, der US-Sonderbeauftragte für Syrien, unverhohlen gedroht, daß jeder, der sich in Syrien „wirtschaftlich betätigt, von Sanktionen getroffen werden könnte, seien es die VAE oder andere Staaten“. Auch die EU bekräftigte, ihren Kurs der politischen Isolation fortzusetzen. Es gebe „keine Normalisierung ohne eine Änderung des Verhaltens des Assad-Regimes“, erklärte EU-Außenchef Borrell. Ohnehin sei, wie bereits in den vergangenen Jahren, ein Großteil der versprochenen Gelder Hilfsprogrammen für Flüchtlinge in den benachbarten Staaten Libanon, Jordanien, Irak und Türkei zugedacht. Was hingegen tatsächlich nach Syrien fließe, wollen Geberländer und Hilfsorganisationen bevorzugt über die türkische Grenze in der Region Idlib kanalisieren. 

Neben den sich selbst verwaltenden Kurdengebieten ist diese das letzte noch nicht von Damaskus zurückeroberte syrische Gebiet – und immerhin Zufluchtsort von über dreieinhalb Millionen Syrern, davon zwei Millionen innersyrische Flüchtlinge, die hier auf einer Fläche von der Größe des Saarlands auch elf Jahre nach Kriegsbeginn noch auf ein Ende des Konfliktes hoffen.

Foto: Baschar al-Assad (l.) und der Vizepräsident der Vereinigten Arabischen Emirate Scheich Mohammed bin Rashid Al Maktoum in Abu Dhabi:  Die USA sind über die Normalisierung der bilateralen Beziehungen zwischen Damaskus und Abu Dhabi nicht erfreut