© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 21/22 / 20. Mai 2022

Sanktionen als Bumerang
Ukraine-Krieg: Gebeutelte westliche Kleinaktionäre und geplante Enteignungsmöglichkeiten
Thomas Kirchner

Eingefrorene Vermögenswerte russischer Oligarchen, insbesondere Luxusjachten und exklusive Immobilien in westlichen Metropolen, machen weiterhin Schlagzeilen. Bisher sind die Besitztümer nur eingefroren, eine Enteignung ist politisch und juristisch umstritten. Nicht einmal eine Randnotiz ist die bevorstehende Enteignung von Tausenden Kleinanlegern im Westen, die in russische Aktien investiert haben. Im Milliardenpoker um die EU-Sanktionen von Öl- und Gaslieferungen (JF 20/22) oder der sich abzeichnenden Kontroverse über die sibirischen Rohdiamanten für Antwerpen fällt ihr Schicksal unter den Tisch.

Hintergrund ist die vom Sanktionskrieg zwischen Rußland und dem Westen beschleunigte Deglobalisierung. Im April ordnete Präsident Wladimir Putin per Dekret an – inzwischen von der Duma bestätigt –, den Handel russischer Aktien an westlichen Börsen zu beenden. Das Problem dabei ist, daß die Aktien nicht direkt notiert sind, sondern durch Hinterlegungsscheine (Global Depository Receipts/GDR) gehandelt werden. Das ist ein feiner, aber wichtiger Unterschied.

Hinterlegungsscheine: Es sieht schlecht für die Halter aus

Während etwa die Deutsche Bank oder Bayer sowohl in ihrem Heimatland als auch in den USA notiert sind, vermeiden viele andere Firmen die hohen Kosten und juristischen Komplikationen doppelter Notierungen. Statt dessen nutzen sie die GDR. Dabei werden die Aktien des jeweiligen Unternehmens bei einem Treuhänder hinterlegt, der dann für diese Aktien spezielle Anteilsscheine – Hinterlegungsscheine genannt – herausgibt. Im Fall von Gazprom beispielsweise wurde für jeweils zwei Gazprom-Aktien ein Hinterlegungsschein herausgegeben, im Fall von Lukoil ist das Verhältnis eins zu eins.

Rund ein Viertel aller Gazprom-Aktien wird von westlichen Anlegern über Hinterlegungsscheine gehalten. Nicht nur russische Firmen nutzen diese. Auch Chinas Internetriese Alibaba, Japans Autogigant Toyota oder der britische Ölkonzern BP ermöglichen ausländischen Anlegern einen vereinfachten Zugang zu ihren Aktien per GDR. US-Anleger können per Hinterlegungsschein Aktien von VW, Siemens oder anderen Dax-Werten erwerben. Hinterlegungsscheine werden in erster Linie von Privatanlegern genutzt, weil institutionelle Anleger direkt in ausländischen Märkten investieren.

Normalerweise entspricht der Wert eines Hinterlegungsscheins sehr genau dem Wert der Aktien im Heimatmarkt. Ist der Hinterlegungsschein zu teuer, kauft jemand die Aktien, hinterlegt sie beim Treuhänder und verkauft die teureren Hinterlegungsscheine mit Gewinn. Ist der Hinterlegungsschein zu billig, kann man sich die Aktien ausliefern lassen und sie mit Gewinn verkaufen. Seit Jahrzehnten funktionierte dieser Anpassungsmechanismus reibungslos. Doch die Sanktionen machen den Anlegern einen Strich durch die Rechnung. Die Kurse der Hinterlegungsscheine betragen nur einen Bruchteil des Werts der zugrundeliegenden Aktien, weil die Ausgleichsgeschäfte nicht mehr möglich sind.

Das allein wäre ärgerlich genug, doch wegen der vom Kreml angeordneten Beendigung der Hinterlegungsscheine werden die Kursfluktuationen nun zu echten Verlusten. Anleger haben zwei Optionen: Wer groß genug ist, ein Wertpapierdepot in Rußland zu eröffnen, kann sich die hinterlegten Aktien ins russische Depot liefern lassen. Die Aktien dürfen dann zwar nur in sehr begrenztem Umfang verkauft werden, aber immerhin kann man Dividenden bekommen. Die werden dann in Rubel gezahlt, mit denen man aber, je nach aktueller Sanktionslage, nicht viel anfangen kann.

Für Kleinanleger, die kein Depot in Rußland eröffnen können, sieht es schlecht aus. Dies dürfte die überwiegende Mehrheit der Halter der Hinterlegungsscheine betreffen, denn wer ein Depot in Rußland hätte eröffnen können, hätte gar nicht erst GDR gekauft. Eigentlich müßten die Depotbanken nun die verbliebenen Aktien in Rußland verkaufen. Dies ist wegen der Sanktionen aber nicht möglich. Damit darben die Hinterlegungsscheine jetzt in einem finanziellen Niemandsland. Selbst Dividenden dürfen die Halter nicht mehr bekommen.

Damit erweisen sich die Sanktionen als Bumerang: Russische Firmen können die Dividenden behalten und machen dadurch zuungunsten der westlichen Anleger Milliardengewinne. Die Sanktionen erweisen sich als Wohlstandstransfer zugunsten der Oligarchen, die sie eigentlich strafen sollten – und es ist eine Enteignung der westlichen Kleinanleger. Allein Gazprom könnte durch die nicht gezahlten Dividenden in diesem Jahr zwei Milliarden Dollar Gewinn einstreichen, Lukoil bis zu 2,5 Milliarden. Insgesamt dürfte der Kleinanlegerschaden bei mehreren Dutzend russischen Firmen zehn Milliarden Dollar jährlich betragen.

Energiesicherungsgesetz führt zu russischen Gegenmaßnahmen

Besonderes Pech haben jene Anleger, die noch kurz vor dem Kriegsbeginn am 24. Februar Hinterlegungsscheine ge- oder verkauft haben: Sie erlebten tatsächlich eine Teilenteignung. Wegen der Sanktionen konnten viele dieser Geschäfte nicht abgewickelt werden. Gemäß den Börsenregeln wurden offene Geschäfte gegen Barausgleich geschlossen. Die Höhe der Abfindung richtet sich nach dem Schlußkurs. Im Falle der russischen Hinterlegungsscheine beträgt dieser aber nur einen Bruchteil des tatsächlichen Werts.

Überhaupt sind Enteignungen plötzlich unter dem Deckmantel des reformierten deutschen Energiesicherungsgesetzes (JF 19/22) salonfähig. Künftig können Firmen der kritischen Energieinfrastruktur zeitweise unter staatliche Treuhänderschaft gestellt werden, um die Versorgung zu gewährleisten. Doch das Gesetz sieht auch Enteignungen vor. Damit ist abzusehen, daß die Treuhänderschaft nur ein Übergangslösung zum eigentlichen Ziel ist: der Enteignung. Daß entsprechende Gegenmaßnahmen von russischer Seite zu erwarten sind, ist klar. 

Wieder einmal wird eine Extremsituation ausgenutzt, um politische Projekte wie Enteignungen durchzusetzen, die unter normalen Bedingungen nicht mehrheitsfähig wären. Wie genau eine Enteignung die Energieversorgung sichern soll, bleibt schleierhaft.

Informationen der Moskauer Börse (MOEX) zu den Hinterlegungsscheinen auf russische Aktien: www.moex.com

Entwurf zum Energiesicherungsgesetz 2022: dserver.bundestag.de

Foto: Absperrhahn eines Erdgasanschlusses: Rund ein Viertel aller Gazprom-Aktien wird von westlichen Anlegern über Hinterlegungsscheine gehalten