© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 21/22 / 20. Mai 2022

„Fahren Sie nicht bis auf die letzte Rille“
Autobranche: Der Ukraine-Krieg macht auch Reifen knapp und teuer / Ausweg mehr Wiederverwertung?
Paul Leonhard

Renault verkauft seinen Zwei-Drittel-Mehrheitsanteil am Lada-Hersteller Avtovaz an das russische Forschungsinstitut Nami. VW hat seine Autoproduktion in Kaluga und Nischni Nowgorod eingestellt. Toyota hat die RAV4- und Camry-Montage in Sankt Petersburg beendet. Der finnische Konzern Nokian Tyres darf Reifen aus seinem dortigen Werk wegen des fünften Sanktionspakets nicht mehr in der EU verkaufen. Der japanische Konkurrent Bridgestone hat seine Fabrik in Uljanowsk an der Wolga geschlossen.

Continental macht das Gegenteil. Der Dax-Konzern hat die im März eingestellte Produktion im Reifenwerk Kaluga südwestlich von Moskau auf Druck der russischen Behörden wieder aufgenommen – ansonsten drohten „unseren Mitarbeitern und Führungskräften in Rußland harte strafrechtliche Konsequenzen, sollten wir darauf verzichten, die lokale Nachfrage zu bedienen“, hieß es aus der Firmenzentrale in Hannover. Und auch in Deutschland droht ein Reifenengpaß – und dafür ist nicht nur der Ukraine-Krieg verantwortlich.

Nachdem bereits vor einem Jahr weltweit der Naturkautschuk knapp wurde und die Preise zweistellig stiegen, geht der Branche jetzt der Ruß aus. Dieser pulverförmige Feststoff besteht zu 80 bis 99,5 Prozent aus Kohlenstoff, er gilt eigentlich als unerwünschtes Nebenprodukt. Doch Industrieruß, wie er zu 80 Prozent bei der Herstellung von Autoreifen Anwendung findet, ist ein Füllstoff und Schwarzpigment, er wird gezielt hergestellt. Dabei gibt es etwa 40 verschiedene Typen von Ruß. Dessen Qualität bestimmt dann Naßrutschfestigkeit, Abrieb oder Rollwiderstand von Reifen.

Drei Kilogramm „Carbon Black“ stecken in einem Autoreifen. Aber auch für Batterien, Schläuche, Dichtungen und andere Gummiprodukte wird er benötigt. Ein Drittel des unverzichtbaren Rohstoffes importierte die deutsche Industrie bisher aus dem Putin-Reich. Und „die europäischen Kapazitäten reichen nicht aus, den Bedarf zu decken“, erklärte Boris Engelhardt, Hauptgeschäftsführer des Wirtschaftsverbands der deutschen Kautschukindustrie (WDK). Für Importe aus China oder Indien fehlten coronabedingt noch immer die Transportkapazitäten.

„Rollen Traktoren in Deutschland bald wieder auf blankem Metall?“

Dazu kommt, daß ohne preisgünstigen Rohstoff aus Rußland die westeuropäische Gummiproduktion zu teuer wird. Mangels Ruß seien bereits in Frankreich und Italien Produktionsanlagen stillgelegt worden. In Deutschland sei das nur eine Frage der Zeit. In Österreich hat der Gummihersteller Semperit bereits seine Gewinnerwartungen reduziert. Betroffen sind auch die Lebensmittel- und Pharmaindustrie sowie Bekleidungshersteller. Die europäischen Reifenhersteller haben vorsorglich schon mal die Preise angehoben, einige Reifensorten sind 15 Prozent teurer als zu Jahresbeginn. Der französische Michelin-Konzern, der zweitgrößte Reifenhersteller der Welt, hat zum 1. Mai an der Preisspirale gedreht. Continental will „je nach regionalen Gegebenheiten individuell über notwendige Preisanpassungen“ entscheiden. Auch Pirelli geht diesen Weg. Spätestens zur Winterreifensaison werden das die deutschen Verbraucher spüren.

„Rollen Traktoren bald wieder auf blankem Metall?“ titelte schon das Portal „Agrar heute“ und erinnerte daran, daß auch bei den Landwirten ohne Reifen nichts fahre: kein Traktor, Mähdrescher, Gummiwagen, keine Palette an den Anbaugeräten. Gerade in der Erntezeit könne es zu Engpässen kommen, wenn dann „unmittelbar ein bestimmter Reifen benötigt werde, wird Henrik Schmudde vom Reifengroßhändler Bohnenkamp in Osna­brück zitiert: „Fahren Sie nicht auf die letzte Rille.“

Die kommenden Engpässe werden wohl auch zu einem Umdenken beim Umgang mit Altreifen führen, die bisher zu 40 Prozent verbrannt wurden. Langfristig könnten sie zu einem begehrten Rohstoff werden: Sie können zu Gummimehl vermahlen und dann wieder für die Reifenproduktion verwendet werden. Auch die Ruß-Frage ließe sich lösen: 1934 wurde das Degussa-Gasrußverfahren vorgestellt, das Teeröl als Ausgangsstoff nutzte. Deutschland war in der Reifenherstellung technisch schon einmal führend. Die USA nutzten ab 1943 das Furnace-Ruß-Verfahren auf Basis von Öl und Gas. Und in der DDR waren runderneuerte Reifen in der realsozialistischen Mangelwirtschaft Standard. Und das kann wiederkommen: Die passende EU-Norm ECE R 108 gibt es schon.

Verband der deutschen Kautschukindustrie: www.wdk.de