© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 21/22 / 20. Mai 2022

Wie Deutschland, nur viel besser
Schwedens Konzept der Totalen Verteidigung: Stockholm hat die Bevölkerung schon früh effektiv auf einen Abwehrkrieg vorbereitet
Ferdinand Vogel

Seit dem Großen Nordischen Krieg von 1700 bis 1721 ist Schweden keine Militärmacht mehr. Einst verfolgten die Schweden unter ihrem König Karl XII., bekannt als Carolus Rex, Großmachtambitionen und lieferten sich einen brutalen Krieg mit den europäischen Nachbarn um die Vorherrschaft im Norden und Osten Europas. Ein Kontrahent von damals ist auch heute wieder einer: Rußland. Nach dem Sieg über die Schweden stiegen die Moskowiter zur Großmacht auf und breiteten ihren Dominanzanspruch über das ganze Baltikum und weite Teile Osteuropas aus.

Seit den Tagen von Karl XII. spielen die Schweden militärisch gesehen nur noch eine untergeordnete Rolle in Europas Geschichte. Heute sind sie nicht für ihre übermäßig maskuline oder militaristische Gesellschaft bekannt, sondern gelten gemeinhin als Vorreiter linker Ideen von Inklusion, Multikulturalismus, Wertenihilismus und Pazifismus. Daß die Schweden während des Kalten Krieges eine hochgerüstete Armee unterhielten und ihre Neutralität mit einer unglaublichen Verteidigungsstruktur verteidigen wollten, ist fast in Vergessenheit geraten.

Doch Schweden ist, wie aktuell dessen Bemühen um einen Beitritt in den Nordatlantikpakt zeigt, für realpolitische Überraschungen und Wendungen gut, die auch Deutschland bitter nötig hätte. Die stark vernachlässigte Armee Schwedens erlebt seit 2015, kurz nach der russischen Annexion der Krim und den von Moskau unterstützten Kämpfen im Donezbecken, eine ungeahnte Wiedergeburt. Für internationale Beobachter, vor allem aus Deutschland, kam beinahe überraschend, daß Schweden die Wehrpflicht 2017 wieder einführte, nachdem sie sie ähnlich wie die Bundesrepublik 2010 ausgesetzt hatte. Am 3. März 2017 beschloß die schwedische Regierung kurzerhand die Rückkehr zur zwölfmonatigen Wehrpflicht (värnplikt) für Männer und Frauen. Neben dieser allgemeinen Wehrpflicht existiert in Schweden jedoch zusätzlich der Zivildienst (civilplikt), der genau wie die Wehrpflicht unter dem Begriff „nationaler Dienst“ (totalförsvarsplikt) zusammengefaßt wird.

In Deutschland unter dem Begriff der Gesamtverteidigung bekannt

Schweden zog aus dem aufgezwungenen Krieg in der östlichen Ukraine und dem Raub der Krim eine realpolitische Konsequenz: die Wiederaktivierung eines Konzepts aus dem Kalten Krieg namens „totalförsvaret“ – „totale Verteidigung“.

Björn von Sydow, ein entfernter Verwandter des Schauspielers Max von Sydow und 2018 Vorsitzender der schwedischen Verteidigungskommission, definierte Totalförsvaret am 22. Februar 2018 in Washington folgendermaßen: „Totale Verteidigung definiert sich laut schwedischem Gesetz als die Vorbereitung und Planung, die notwendig ist, um Schweden auf Krieg vorzubereiten. Wenn die Regierung die höchste Alarmstufe ausruft, werden alle gesellschaftlichen Apparate als Teil der Totalen Verteidigung definiert.“

Das Modell der „Totalen Verteidigung“ basiert auf der Prämisse, daß im Falle eines feindlichen Angriffs auf schwedisches Territorium die gesamte Bevölkerung, inklusive allen zivilen Personals, in allen zivilen Einrichtungen ausnahmslos, ob staatlich oder nichtstaatlich, sich vollumfänglich und nach besten Kräften an der Gesamtverteidigung der staatlichen Souveränität Schwedens beteiligen muß. Wer aus Gewissensgründen nicht an der Waffe dienen will, wird in Schweden kurzerhand dennoch in einer den Abwehrkrieg unterstützenden Funktion eingesetzt.

Im Konzept der Totalen Verteidigung hat jedes Teilglied der Gesellschaft, vom Logistikunternehmen über die kommunale Verwaltung bis hin zum Reservisten, eine klar abgesteckte Aufgabe und einen Raum, den er verteidigen muß, um es dem potentiellen Angreifer so schwer wie möglich zu machen, Geländegewinne zu erzielen oder die Infrastruktur Schwedens auszuschalten. Das in den achtziger Jahren noch starke Reservistenkorps (Hemvärnet oder Heimwehr), das graduell seit den neunziger Jahren abgebaut wurde, soll nun mit Hilfe eines deutlich erhöhten Wehr­etats wieder Rückgrat der schwedischen Verteidigung werden. Um etwa 2,7 Milliarden Euro soll das Budget im Verteidigungshaushalt jährlich bis 2025 erhöht werden, um die Konzeption der Totalförsvaret in tatsächliche Manöver, Ausrüstung und „Manpower“ zu verwandeln. Die Artillerietruppen wurden bereits modernisiert. Die mit dem Ende der Blockkonfrontation verkümmerten militärischen Fertigkeiten sollen wiederaufgebaut, die Armee mit ihren aktuell 50.000 aktiven Soldaten zum Abwehrkampf gegen einen konventionellen Gegner befähigt werden. Neue und bessere Waffensysteme für das Feldheer wie etwa Radpanzer, Militärfahrzeuge und die Marine – neue U-Boote wurden schon vergangenes Jahr bestellt – sowie die grundlegende Vollausstattung der Reservisten gehören genauso dazu wie großangelegte Übungen im Rahmen der Nato-Zusammenarbeit.

Was überaus martialisch klingt, ist keine unübliche Praxis und auch in Deutschland unter dem Begriff der Gesamtverteidigung bekannt, die im Falle eines heiß werdenden Kalten Krieges auch in der Bundesrepublik Anwendung gefunden hätte. Die vom Bundesministerium des Innern (BMI) 2016 vorgestellte Konzeption der „Zivilen Verteidigung“ weist Parallelen zum schwedischen Konzept auf und wiederholt inhaltlich das, was man gemeinhin in Westdeutschland bis 1989 für gegeben hielt: Alle Deutschen haben ihr Land im Falle eines Krieges zu verteidigen und sind natürliche Verteidiger des Staatsgebiets. Die Zivile Verteidigung unterstützt demnach alle Maßnahmen des Bundes, „die zur Herstellung und Aufrechterhaltung der Verteidigungsfähigkeit und des Schutzes der Bevölkerung erforderlich sind“, so das BMI.

Schweden hat anders als Deutschland bisher jedoch nicht nur Konzepte vorgestellt und kleinere Übungen wie Getex und Lükex abgehalten, sondern bereitet seine ansonsten eher pazifistische Gesellschaft umfassend auf einen hypothetischen Abwehrkrieg gegen einen Gegner vor, der mit Panzern, Flugzeugen und Soldaten durch Lappland, Norrbotten oder Gotland marschieren will. Auf Youtube und Facebook laufen Informationsfilme der schwedischen Streitkräfte und der Regierung, die das Konzept der Totalen Verteidigung erklären, für den Wehrdienst werben und Bürger darüber informieren, was im Krisenfall Teil ihrer Aufgaben sein könnte und welche Maßnahmen jeder einzelne ergreifen muß, um sich selbst und seine Mitmenschen im Ernstfall zu schützen.

Zerstörte Brücken, zusammengebrochene Infrastruktur, Kälte, Hunger und Tod sind plötzlich Szenarien, die von der Regierung als mögliche Lebensrealität wieder in den Diskurs gebracht werden. Daß die norwegische Fernsehserie „Occupied (Die Besatzung)“, in der Norwegen von der Russischen Föderation besetzt wird, in schwedisch-französischer Ko-Produktion entstand und seit 2015 in allen nordischen Ländern ausgestrahlt worden ist, ist kein Zufall und hat mit der neuen Wahrnehmung der Skandinavier zu tun, die offensichtlich der Meinung sind, daß der Winterschlaf des Russischen Bären vorbei ist.

Unterstützung für den schwedischen Paradigmenwechsel in der Verteidigungspolitik kommt, wie beim Nachbarn Finnland auch (siehe Seite 9), derzeit von Rußland selbst, das mit seinem Großangriff auf die Ukraine allen Mahnern und Warnern recht gegeben hat. Die Debatte um den Beitritt zur Nato ist auch in Schweden schnell zielführend geworden: Am Montag verkündete Ministerpräsidentin Magdalena Andersson im Parlament, daß Schweden einen Antrag auf Aufnahme in das nordatlantische Verteidigungsbündnis stellen werde – gemeinsam und koordiniert mit dem Nachbarn Finnland. Als letzte der schwedischen Parteien hatten ihre Sozialdemokraten nach und nach den Widerstand gegen die Aufgabe der Neutralität überwunden. Am Sonntag plädierte die Regierungspartei dafür, sich um den Nato-Beitritt zu bewerben. Auch die Schwedendemokraten sind dafür. Eine Mehrheit der Reichstags-Parteien stimmte am Montag für eine Mitgliedschaft in der Nato. Grüne und Linke votierten dagegen. Beide Parteien besetzen gemeinsam nur 43 von 349 Sitzen im schwedischen Parlament.

„Es gibt viel in Schweden, das es wert ist, verteidigt zu werden. Und Schweden wird am besten in der Nato verteidigt“, argumentierte Andersson in der Debatte. Sobald Finnland es dem Nachbarn gleichtut – das finnische Parlament stimmte am 

Dienstag mit überwältigender Mehrheit für einen Nato-Beitritt, die schwedische Außenministerin Ann Linde unterschrieb am Dienstag den Nato-Aufnahmeantrag –, könnte der gesamte nordische Block aus den vier skandinavischen Ländern dann zusammen mit den baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen im Norden und Nordosten Europas als blaue Fläche auf den strategischen Karten der Weltpolitik stehen. Freilich erfordern die Nato-Statuten dazu Einstimmigkeit – der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan lehnt den Beitritt der möglichen neuen Kandidaten bislang brüsk ab.

Der schwedische Verteidigungsminister, Peter Hultqvist von den Sozialdemokraten, hatte bereits Mitte März dieses Jahres unterstrichen, daß Schweden das Zwei-Prozent-Ziel bei den Militärausgaben erreichen will. Das war ein Wink mit dem Zaunpfahl in Richtung Washington, das diese zwei Prozent an Ausgaben von jedem Nato-Mitglied einfordert. Zusammen mit dem Konzept der Totalen Verteidigung und intensivierten gemeinsamen Übungen mit Nato-Staaten bringt sich Schweden in Stellung, um einen guten Platz unter dem Schutzschirm Washingtons zu ergattern.

Für die Periode zwischen Antrag und tatsächlicher Aufnahme in die Nato dürfte der militärische Beistandsvertrag nützlich sein, den Schweden und Finnland vergangene Woche mit Großbritannien abgeschlossen hatten. London sicherte Stockholm und Helsinki in jeweils separaten Erklärungen für den Verteidigungsfall seine Hilfe zu. 

Denn aus Rußland kamen bereits negative Signale. Der stellvertretende Außenminister Sergej Rjabkow nannte die mögliche Nato-Aufnahme der beiden nordischen Länder am Montag einen „schwerwiegenden Fehler mit weitreichenden Folgen“. Die militärischen Spannungen würden dadurch zunehmen, drohte er. Die beiden Länder sollten „keinerlei Illusionen haben, daß wir uns damit einfach abfinden“.

 Kommentar Seite 2

Fotos: Schwedische Soldaten während einer Heeresübung vergangene Woche in Südschweden: „Schweden auf Krieg vorbereiten“; Schwedens Minister-präsidentin Magdalena Andersson am Montag im Reichstag: „Schweden wird am besten in der Nato verteidigt“