© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 21/22 / 20. Mai 2022

Dorn im Auge
Christian Dorn

Kurz vor Mitternacht. Auf dem um diese Zeit toten Umsteigebahnhof in der Lutherstadt Wittenberg hat der Anschlußzug über 90 Minuten Verspätung. Gedankenverloren murmele ich die Zeilen des Songs „Der Ausreißer“ vom letzten DDR-Album der Band Pankow vor mich hin: „Lieber will ich irgendwo verrecken auf den deutschen Reichsbahnstrecken.“ Diese Gedankenlosigkeit reißt mich beinahe aus dem Diesseits. Mit höllischer Geschwindigkeit nähert sich auf dem Gleis, an dem ich warte, eine giftgrüne metallische Riesenschlange namens „Flixtrain“, die mit gleißendem Licht durch den Bahnhof schießt, als wäre es eine Erscheinung aus einem Science-fiction-Film, geradezu eine Emanation aus dem Nichts – der entstehende Sog reißt mich beinahe mit. Gerade noch kann ich meinen Hut festhalten, auch Koffer und Tasche haben Glück, daß sie nicht mitgerissen werden, obwohl sie einige Meter entfernt stehen.

Lesenswerte Betrachtungen von Pankow-Sänger André Herzberg, etwa über Charlie Chaplin.

Zurück in Pankow erwartet mich das Rezensionsexemplar „Keine Stars. Mein Leben mit Pankow“ von André Herzberg. Anders als die literarisch beeindruckenden autobiographischen Romane und Erzählungen, die der jüdischen Herkunft nachspüren, wie „Alle Nähe fern“ (2015) und „Was aus uns geworden ist“ (2018), die beide bei Ullstein erschienen sind und eine berührende, tief emotionale Wirkung entfalten, wirkt der neue Titel, veröffentlicht bei Aufbau, fast wie ein DDR-Buch – nicht nur wegen des Inhalts, der fast ausschließlich die DDR-Zeit reflektiert. Doch auch hier finden sich lesenswerte Betrachtungen, etwa über Charlie Chaplin als den „kleine(n) Mann, der zum tragikomischen Helden wird, der die Verhältnisse nicht ändern kann, aber die Perspektive darauf“. Zufällig hatte ich Augenblicke zuvor im U-Bahn-Fenster Richtung Pankow Werbung für den Chaplin-Klassiker „Modern Times“ im Kino Babylon gesehen, mit Orchesterbegleitung. Von eigentümlicher Aktualität erscheint auch Herzbergs Schilderung des Auftritts 1983 im Palast der Republik im Rahmen des Programms „Rock für den Frieden“, das zeitgleich im DDR-Fernsehen übertragen wird. André Herzberg steht auf der Bühne im „Rock“ der Wehrmacht, die von der NVA-Uniform kaum zu unterscheiden ist: „Ich hatte etwas getan, was laut Propaganda der DDR unmöglich war, ich hatte eine Linie gezogen von den Deutschen 1933 zu den Deutschen von 1983.“ Sofort hatten daraufhin das DDR-Fernsehen und der Rundfunk die Übertragung abgebrochen. Einmalig zum Ende der DDR die gemeinsame Tour mit der Big Band der Westgruppe der Sowjetischen Streitkräfte, die sogar Udo Lindenberg beim Wort nimmt und in 15 Minuten mit den Russen auf dem Kurfürstendamm ist. Doch dann ist alles anders, die Künstler-freiheit mit dem Reisepaß in den Westen ist künstlich, ja Geschichte: „Die Zeit, die ewig stillgestanden hatte, hörte nicht mehr auf zu rasen.“

Vormerken: Pankow spielen am 28. Juni ein Open-Air-Konzert im Park der Stiftung Schloß Neuhardenberg und am 1. Juli zur Eröffnung des Jubiläums-Dorfrocks in Schmadebeck (Mecklenburg-Vorpommern).