© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 21/22 / 20. Mai 2022

Ein blinder Spiegel, ein kalter Kamin
Klangwelten: Franz Schrekers selten gespielter „Schatzgräber“ an der Deutschen Oper Berlin
Jens Knorr

Während der Spielplan unserer Opernbühnen von Jahr zu Jahr gestaltloser wird“, notierte der Musikkritiker Paul Bekker, „und zwischen ererbtem, Experiment, mehr oder minder erfolgreichen Galvanisierungsversuchen vergessener Werke und den Zufallstreffern einiger moderner Kassenstücke schwankt, ist eine neue Musiker-Erscheinung aufgetaucht, die bestimmt scheint, diesem an festruhenden, zeiteigenen Werken so armen Spielplan einen charaktervollen, innerlich bestimmenden Gegenwartszug aufzuprägen: Franz Schreker.“ Bekker, der unermüdliche Sachwalter und Propagandist Neuer Musik und zu der Zeit Kritiker bei der Frankfurter Zeitung, erachtete Franz Schreker als unverzichtbar für Repertoire und Republik, förderte den Komponisten kritisch nach Kräften und begrüßte enthusiastisch die Uraufführung des „Schatzgräbers“ 1920 an der Frankfurter Oper.

Einer Königin ging mit dem Diebstahl ihres Schmucks die Fruchtbarkeit verloren. Eine Wirtstochter, Els, süchtig nach Schmuck, ihren Freiern abhold, sendet auch den aktuellen Freier nach einem bestimmten Schmuck in die Stadt aus und läßt ihn auf dem Rückweg ermorden. Ein fahrender Sänger und Scholar, Elis, der kraft seiner Laute jeden Schatz findet, um den gefundenen umgehend wegzuschenken, hat auf seinem Wege einen Schmuck gefunden und schenkt ihn Els. Es ist der Schmuck, den Els’ Freier im Kampf mit seinem Mörder verloren hatte. Fälschlich als dieser Mörder festgenommen, entgeht Elis dem Strang und soll mittels seiner Laute dem König den Schmuck der Königin finden. Els läßt die Laute verstecken und legt den Schmuck für Elis an. Es ist der Schmuck der Königin, von dem sich Els nach der Liebesnacht mit Elis lösen kann. Elis bringt ihn der Königin zurück, reklamiert ihn jedoch für Els. Els’ Verbrechen wird entdeckt, Elis wendet sich von ihr ab, der Narr des Königs wendet sich ihr zu. Der Todesstrafe entgeht Els durch Heirat mit dem Narren, nicht aber ihrer Bestimmung: dem Tod. Gesang und Lautenklang des zurückgekehrten Elis leiten sie hinüber.

Geschlechterkampf und -krampf als Hintergrundrauschen

Die privilegierte Frau durchschleicht anämisch ihre Tage, die unterprivilegierte Frau läßt stehlen und morden, erst ohne schlechtes, dann mit schlechtem Gewissen, der Sänger deckt singend Wahrheit auf und zu, der Narr, unglücklich in eine Schöne vernarrt, ist als Sehender blind und sehend als Blinder und verstummt ob der Narrheit der Welt – einzig als Funktion der Musik haben die abgedroschenen Motive noch ihre Berechtigung, collagiert wie jene.

Die Musik sei, so Bekker 1919, „das Ursprüngliche, aus dem sich der Text gebiert. Die musikalische Vision steht am Anfang, ihre Versinnlichung formt sich in dramatischer Gestalt, und dieser Gestaltungsprozeß erst fördert die Dichtung zutage.“ Schrekers musikalische Themen soll der Hörer erfühlen, nicht erkennen und erinnern: Das Geschmeide der Königin ist als ein fetischisiertes Bedürfnis komponiert. Während der Klang zu sich selbst kommt, sind Figuren und Handlungen, denen man ihn eben noch zuordnen wollte, längst dissoziiert. Wenn in dem kitschigen Satz Wahrheit ist, daß die Welt Klang sei, dann scheint in Schrekers Musik das Entsetzen darüber auf, daß der Klang der Welt nicht unbedingt noch auf Menschen angewiesen sein muß.

Das könnte sowohl den Sensationserfolg von Schrekers „Schatzgräber“ in der frühen als auch den nachlassenden Erfolg in der sich konsolidierenden Weimarer Republik begründen. Laut Pipers Enzyklopädie des Musiktheaters entfallen von den 50 zwischen 1920 und 1932 nachgewiesenen Inszenierungen 44 in die Spielzeiten 1920 bis 1924/25. Die Welt, die aus den Fugen war, schien wieder sicher verfugt.

An der von Paul Bekker im Jahre 1919 beschriebenen Situation der Opernbühnen aber scheint sich wenig geändert zu haben. Seit den siebziger Jahren sind die nach 1933 verbotenen und nach 1945 vergessenen Opern Franz Schrekers mehr oder minder erfolgreichen Galvanisierungsversuchen unterzogen worden. Schrekers Klangwelt sinnvoll zu Figuren, Handlungen und Bühne in Beziehungen zu setzen und ihr szenisch zu antworten, reichen die Mittel nachahmenden Schauspielertheaters schwerlich aus. Für diese aber hat sich die Regie an der Berliner Deutschen Oper entschieden. Sie übersetzt Klangphänomene in psychische Befindlichkeiten der Figuren, die ihre Sänger sich anzueignen und nach außen zu tragen haben.

Regisseur Christof Loy nimmt die Festgesellschaft des vierten Aufzugs für das Ganze und ein „Gesellschaftsbild“. Der Einheitsraum von Johannes Leiacker stellt eine hohe Halle vor, mit Sichtbalkendecke, Wandpaneelen in Marmoroptik, elektrischen Wandleuchten, kaltem Kamin, blindem Spiegel, hohen Fenstern zum Nirgendwo der Seitenbühne, zwei Auftritten im Hintergrund – so irgendwas zwischen Berghof nahe Davos und Berghof in Obersalzberg.

Von Barbara Drosihn eingekleidet, mit modischen Anleihen von den Zwanzigern bis ins Heute, läßt eine nicht weiter bestimmte Oberschicht eine nicht weiter bestimmte Unterschicht für sich spielen. Diverse Statisten haben die Szenen zu verklammern, auf- und abzutreten, perverses Treiben zu treiben oder untätig herumzulungern, sind jedoch schlichtweg überflüssig, als Gesellschaft sowieso, aber auch als Statisterie. Der Narr des Michael Laurenz hat durch das Stück zu gehen, mit und ohne Narrenmütze, mit und ohne Augenbinde, mit und ohne Notentext, aber immer mit oberlehrerhaft prüfendem Blick, ob auch jedermann verstanden habe, was er da durch die vierte Wand zu sehen bekam.

Das Orchesterzwischenspiel zur Liebesnacht im dritten Aufzug offenbart den „Defekt“ der Komposition, seine szenische Umsetzung die Ratlosigkeit der Regie vor der Partitur: „das Gewoge (geht) in Geschwöge über, die Darstellung des Unartikulierten wird selber unartikuliert“, vermerkte 1959 ein Schreker durchaus zugewandter Theodor W. Adorno. Dazu ist der Regie lediglich ein plüschgewittriges, mit Verlaub, „Rudelbumsen“ der Statisten eingefallen, die Illustration einer Illustration. Und zu den drei Liedern des Elis und dem einen Lied der Els, um die herum die vier Aufzüge eigentlich gebaut sind, nicht viel mehr.

Marc Albrecht läßt Schrekers Partitur als Filmmusik laufen, die den Spielern Gefühlsexplosionen und -implosionen detailliert vorzeichnet oder ihrem Geschlechterkampf und -krampf in memoriam Otto Weininger als Hintergrundrauschen unterlegt ist. Dagegen kommen die Sänger kaum an. Daniel Johansson als Elis und Elisabet Strid als Els stehen die strapaziösen Partien ihrer verhinderten Königskinder mit strapazierten Stimmen tapfer durch.

Unter das Partiturautograph des Nachspiels hatte der Österreicher Schreker geschrieben: „Ende der Oper. 12. November 1918. (am Tage der Ausrufung der Republik Deutschösterreich u. dem Anschluß an das deutsche Reich!)“. Zu dem „zukunftsvollen Erneuerer eines musikdramatischen Stiles (…) inmitten einer Zeit planlosen Experimentierens“ hat es Schreker entgegen Bekkers Erwartungen nicht bringen können. Doch ist nicht auszuschließen, daß in kaltem Kamin lichtlose Glut glimmt und hinter blindem Spiegel Bilder sich verbergen, die als Schatz zu heben dieser Zeit versagt bleiben muß.

Die nächsten Vorstellungen von „Der Schatzgräber“ an der Deutschen Oper Berlin, Bismarckstraße 35, finden statt am 4. und 11. Juni jeweils um 19.30 Uhr. Kartentelefon: 030 / 343 84 343

 https://deutscheoperberlin.de

Foto: Daniel Johansson als Elis und Elisabet Strid als Els: Strapaziösen Partien