© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 21/22 / 20. Mai 2022

Ein eigenes Urteil bilden
Unaufgeregt: Filmdoku zum Streit um Uwe Tellkamp
Thorsten Thaler

Wir werden behandelt, als wären wir Verbrecher“, sagt der Schriftsteller Uwe Tellkamp und meint damit sich und die Dresdner Buchhändlerin und Verlegerin Susanne Dagen. Der Satz fällt etwa in der Mitte des 90minütigen Dokumentarfilms „Der Fall Tellkamp – Streit um die Meinungsfreiheit“, der am Mittwoch dieser Woche auf 3sat ausgestrahlt wurde. Der Regisseur Andreas Gräfenstein beleuchtet darin die Geschichte „eines gefeierten Schriftstellers, der wegen seiner öffentlichen Positionierungen in Ungnade fiel“, wie es einleitend heißt.

Gemeint sind Tellkamps differenzierende Ansichten zu der islamkritischen Pegida-Bewegung, vor allem aber seine Äußerungen zur Flüchtlingskrise in Deutschland ab 2015. „Die meisten fliehen nicht vor Krieg und Verfolgung, sondern kommen her, um in die Sozialsysteme einzuwandern, über 95 Prozent“, sagte er im März 2018 in einer öffentlichen Diskussion mit dem Lyriker Durs Grünbein über „Meinungsfreiheit in der Demokratie“ im Dresdner Kulturpalast. Bis dahin noch als Autor des großen deutschen Wenderomans „Der Turm“ gefeiert, für den er den Deutschen Buchpreis des Börsenvereins erhalten hatte, gilt Tellkamp spätestens seither gerade in vermeintlich aufgeschlossen-freisinnigen Intellektuellenmilieus als „umstritten“. Zumal er ein halbes Jahr zuvor, im Oktober 2017, die von Susanne Dagen initiierte „Charta 2017“ unterzeichnet hatte. Sie wendete sich mit Blick auf die Drangsalierung rechter Verlage auf der Frankfurter Buchmesse dagegen, „wie unter dem Begriff der Toleranz Intoleranz gelebt, wie zum scheinbaren Schutz der Demokratie die Meinungsfreiheit ausgehöhlt wird“.

Tellkamp und Dagen sind zu polarisierenden Figuren geworden. Gräfensteins hingegen unaufgeregte Filmdoku geht der Frage nach, wie es zu diesen verhärteten Fronten kommen und wie es passieren konnte, daß ein einst diskussionsfreudiger Kreis Intellektueller die Streitkultur aufgegeben hat und nun nicht mehr miteinander debattieren kann. In dem Film kommen neben Tellkamp und Dagen unter anderem der Kulturwissenschaftler Paul Kaiser, der vor Jahren eine Diskussionsreihe im Buchhaus Loschwitz leitete, die Schriftsteller Monika Maron, Ingo Schulze und Jana Hensel, der Theologe und Politiker Frank Richter sowie der Dresdner Theatermacher Heiki Ikkola zu Wort, unter dessen Leitung das Societaetstheater im vorigen Herbst das Stück „Die Buchhändlerin“ auf die Bühne brachte. Erklärte Absicht von Regisseur Gräfenstein war es, daß sich die Zuschauer durch die Gegenüberstellung von Positionen selbst ein Urteil bilden sollen, wie er Anfang der Woche in einem Interview mit dem Norddeutschen Rundfunk erklärte. Das ist ihm wohltuend gelungen.

Der Film ist in der 3sat-Mediathek abrufbar. Außerdem zeigt das ZDF am 12. Juni um 0.35 Uhr eine 45-Minuten-Fassung.

 www.3sat.de

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