© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 21/22 / 20. Mai 2022

Mein Vater, der Büchernarr
Literatur: Der Roman „Vati“ von Monika Helfer ist eine skrupulös erzählte Nachkriegsgeschichte
Dietmar Mehrens

Was sagt es über eine Familie aus, wenn die Kinder ihren Vater nicht „Papa“, sondern „Vati“ nennen? Steckt dahinter ein bestimmtes Rollenbild? Ist „Papa“ altmodisch und „Vati“ modern, gerade mit Blick auf eine wenig ruhmreiche deutsche Vergangenheit? 

Diese Überlegung steht am Anfang von „Vati“, einem Werk, das mehr persönliches Erinnerungsbuch als Roman ist. Doch bereits Goethe, der Verfasser von „Dichtung und Wahrheit“, wußte, daß im Erinnern der Kern des Fabulierens schon begründet liegt. So ist es auch in dem nur knapp 180 Seiten umfassenden Buch der Österreicherin Monika Helfer: Immer wieder schaltet sich das erinnernde Ich ein, um das Bruchstück- und Lückenhafte, das nicht immer Verläßliche des Erzählten zu akzentuieren.

Wenn beispielsweise Gespräche der Erzählerin mit ihrer Schwester referiert werden, deren Erinnerungen an den gemeinsamen Vater sich nicht immer mit ihren eigenen zur Deckung bringen lassen. Oder wenn die Stiefmutter zu Wort kommt, die zu treffen und zu befragen Teil der Recherchearbeit war, die dem Buch vorausging. So ist „Vati“ nicht nur ein Werk des Rückblicks auf biographische Daten vor zeitgeschichtlichem Hintergrund geworden, sondern auch eine Reflexion über die Zuverlässigkeit des Gedächtnisses, ein Thema, das die Literatur immer wieder beschäftigt hat und auch den Diskurs über Literatur. Man denke an den Skandal um Günter Grass anläßlich des Erscheinens von „Beim Häuten der Zwiebel“ oder an Julian Barnes’ meisterhafte Erzählung „Vom Ende einer Geschichte“, in der es darum geht, wie leicht das Gedächtnis sich täuschen läßt, wenn der, zu dem es gehört, dadurch besser dasteht.

Monika Helfer, die es vorigen Herbst in die Endauswahl für den Deutschen Buchpreis schaffte, diesen dann aber ihrer Kollegin Antje Rávik Strubel für deren deutlich voluminöseren Roman „Blaue Frau“ (JF 50/21) überlassen mußte, zeichnet in dem Buch das Porträt ihres „Vatis“ Josef, eines exzentrischen Büchernarren. Die Person, die der Monomane verdeckt, ein Weltkriegsopfer mit erahnbaren seelischen Verletzungen, gewinnt nur in Andeutungen Kontur, weil Josef ein verschlossener Mann war, der wenig über private Befindlichkeiten preisgab, und damit auch ein Repräsentant seiner Generation. Männer, die gebetsmühlenhaft dazu ermutigt werden, Gefühle zuzulassen und diese auch zu zeigen, sind schließlich eher ein Phänomen der Gegenwart als der Vergangenheit.

Überfordert mit der Rolle des Alleinerziehenden

Einer der Sätze, die Josef charakterisieren, lautet: „Er wollte ein Buch nicht nur lesen, er wollte es besitzen.“ Wenn heute oft von dem „haptischen Erlebnis“ eines Buches die Rede ist, um ihm gegenüber der digitalen Konkurrenz einen Wettbewerbsvorteil zu verschaffen, dann läßt das zumindest erahnen, was für den Vater von Gretel, Monika, Richard und Renate ein Buch bedeutete. Lesen ist für ihn nur eine Funktion des Buches; es gehören auch das Betasten und Beschnuppern dazu, ja sogar gestreichelt wurden die Druckwerke von ihm.

Im Jahr 1955 – sie selbst ist acht Jahre jung – läßt die Autorin ihren Rückblick beginnen. Sie führt den Leser auf die Tschengla, einen malerischen Landstrich unweit von Bregenz. Wald, duftende Frühlingswiesen mit herumflatternden Schmetterlingen, mittendrin ein Kriegsversehrten-Erholungsheim – ein Nachkriegsidyll. Josef ist vom Trägerverein der gemeinnützigen Stätte als Hausverwalter eingestellt worden, weil man ihm, der im Krieg ein Bein verloren hat, zutraut, die Bedürfnisse der Gäste besser einschätzen zu können als ein Nicht-Invalider. Abseits der Hochsaison, der Oster-, Weihnachts- und Sommerferienzeiten, ist in dem Erholungsheim nichts los. „Zwei Drittel des Jahres“, erinnert sich Monika, „wohnten nur wir hier“, also Vater, Mutter und die drei Kinder Gretel, Monika und Richard, dazu einige wenige Bedienstete.

Zwei nicht ganz alltägliche Hobbys hat der Vater. In einem Schuppen hat er sich ein privates Chemie-labor eingerichtet. Und dann gibt es das Heiligtum: eine Bibliothek, erfreuliches Resultat der Bücherspende eines Philologie-Professors aus Tübingen. Die invaliden Gäste interessieren sich für die dort aufgereihten Klassiker kaum; für Josef aber sind sie ein Schatz, den er hegt und pflegt wie andere Leute zu jener Zeit ihr erstes Auto. Diese Liebe, mehr eine Besessenheit, wird ihm zum Verhängnis.  

Das Idyll zerbricht jäh, als das Kriegsopfer-Erholungsheim mangels effizienter Auslastung einer kommerziell einträglicheren Verwendungsweise zugeführt werden soll. In einer Kurzschlußreaktion schafft Josef die Bücher, weil er annimmt, daß sich niemand für sie interessieren würde, beiseite. Als die Besitzer der Immobilie eine Inventur verlangen, der Rechnungsprüfer eine Bücherliste vorlegt und Josef befürchten muß, der Untreue bezichtigt zu werden, unternimmt er einen Selbstmordversuch. Die Erklärung, die eine der resoluten Tanten für das gescheiterte Freitodunternehmen bereithält, ist Lüge und Wahrheit zugleich: „Der Krieg sei schuld, sagte sie“, und daß die Männer über das, was sie dort erlebt hätten, nicht sprechen könnten: „Es sei so, daß, je Schlimmeres einer erlebt habe, er um so weniger darüber sprechen könne.“

Kaum hat sich die Familie von dem Drama erholt, stellt sich bereits das nächste Ungemach ein: Die Mutter erkrankt an Krebs und verstirbt. Der Vater, konsterniert und weder psychisch noch physisch in der Lage, der Rolle eines Alleinerziehenden gerecht zu werden, muß sich von den Kindern trennen. „Die Bagage“ (so heißen nicht nur die sechs Geschwister der Verstorbenen, sondern auch der Vorgängerroman von 2020) nimmt sich der Kinder an. Für Monika und ihre inzwischen drei Schwestern beginnt in der Familie einer Tante, die selbst bereits Kinder hat, ein völlig neues Leben, in dem es nur das Nötigste zum Leben gibt. Von Vater und Bruder hören sie nichts mehr. 

„Vati“ ist eine Nachkriegsgeschichte, in der die Last des großen Furors und Terrors der zurückliegenden NS-Ära spürbar ist, ohne zu erdrücken. Denn die Familie ist damals noch, was sie heute oft nicht mehr ist: Halt und Hort. Bei Helfer hört sich das ganz unromantisch so an: „Die Bagage läßt die Ihren nicht im Stich.“ Die Art und Weise, wie die Vorarlbergerin sich ihrem Stoff, der eigenen Biographie, nähert, ist subtil. Es ist nicht die des stringenten Erzählens, bei dem sich der Leser im Sog der dramatischen Ereignisse verliert und von Seite zu Seite hastet. Die 74jährige verfährt tastend, skrupulös und in dem Bewußtsein, daß die subjektive Erinnerung der stetigen Rückversicherung durch andere Zeitzeugen bedarf, um nicht zum bloßen Gespinst der Einbildung zu werden.

Die Buchpreis-Jury lobte durchaus zutreffend die „zärtliche Traurigkeit“ des Romans, „in dem Gefühl und sprachliche Klarheit vollständig ausgewogen sind“. Mancher, der zu dem Buch gegriffen hat, wird sich eine forscher voraneilende Erzählung vorgestellt haben. Gleichwohl hat „Vati“ seine, vor allem weiblichen Leser gefunden. Das Identifikationspotential in der Generation 55plus ist hoch. Und die Frage, ob Vatis die besseren Papas sind oder umgekehrt oder ob die beiden Wörter einfach nur Synonyme sind, ohne doppelten Boden, die hat sich in ihrem Leben wohl nicht nur Monika Helfer gestellt.

Monika Helfer: Vati. Roman Hanser Verlag, München 2021, gebunden, 176 Seiten, 20 Euro

Foto: Autorin Monika Helfer: „Die Bagage läßt die Ihren nicht im Stich“