© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 21/22 / 20. Mai 2022

Ein riesiger Hebel
Brüssel plant neuen Anlauf für Massenüberwachung: Alle Chatnachrichten sollen durchleuchtet werden
Harald Fourier

In Mainz wurde ein 54jähriger im Februar zu einer dreijährigen Haftstrafe wegen des Besitzes von 10.000 kinderpornographischen Bildern verurteilt. Und in Pirmasens steht derzeit ein anderer Angeklagter wegen des Besitzes ähnlicher Bilder vor Gericht. Bei ihm waren es zwar weniger Fotos, aber dafür hat er sie auch verbreitet. Nacktfotos von Kindern, über die fast täglich berichtet wird, sind nicht neu, aber ihre Verbreitung wurde durch das Netz sehr vereinfacht. 44.276 Fälle hat das Bundeskriminalamt im Jahr 2021 registriert, ein Rekordwert und eine Verdopplung im Vergleich zum Vorjahr.

Die EU-Kommission plant nun die Gründung einer neuen Behörde, um derlei zu unterbinden. Die EU-Kommissarinnen Ylva Johansson (Sozialistin, Schweden) und Dubravka Šuica (Christdemokratin, Kroatien) haben in der vergangenen Woche ihren Plan dazu vorgestellt. Sie zielen vorrangig auf Nachrichten- oder Messengerdienste wie Whatsapp, Threema und Telegram. Die Anbieter dieser Dienste sollen verpflichtet werden, die gesendeten Inhalte all ihrer Kunden auf kinderpornographisches Material hin zu überprüfen. Wenn Fotos oder Videos von einem Nutzer verbreitet werden, müssen diese „gemeldet, blockiert und gelöscht“ werden, so der 133 Seiten lange Entwurf der Kommission. Zu informieren wären sowohl die neue Behörde („EU-Zentrum gegen Kindesmißbrauch“) als auch gegebenenfalls die Staatsanwaltschaft des betroffenen Einzelstaates. Doch das ist aufgrund der Verschlüsselung nur möglich, wenn die Anbieter dieser Dienste sämtliche Nachrichten automatisch durchforsten lassen. Anbieter, die keine eigene Software dafür programmieren können, bekommen ein staatliches Überwachungsprogramm von der neuen Behörde geliefert.

„Seit Jahren kämpft die EU gegen ein freies Netz und für Zensur“

In der Regel werden Nachrichten in diesen Diensten verschlüsselt verschickt. Sie können somit nicht während des Transfers und damit anonym vorsortiert, sondern nur vor dem Versand oder nach dem Empfang ausgewertet werden – auf dem Gerät des Nutzers. Also müssen die Anbieter eine Hintertür schaffen, um die Verschlüsselung zu umgehen und die Nachrichten sämtlicher Nutzer zu prüfen. Schließlich sollen die Anbieter auch noch verhindern, daß Erwachsene Kinder auf andere Weise belästigen. Auch dies ginge nur durch den Einsatz von künstlicher Intelligenz – und das gezielte Durchstöbern von Textnachrichten. Hier ist ebenfalls der Eingriff bei Millionen Unschuldigen geplant, um einige wenige Pädokriminelle ausfindig zu machen. Kritik angesichts dieses neuen Vorstoßes hin zu Massenüberwachung ließ nicht lange auf sich warten. Sie kommt aus allen Ecken und gipfelt in dem Vorwurf, dies sei ein „nie dagewesenes Überwachungswerkzeug“ und ein „Angriff auf jegliche vertrauliche Kommunikation“ (Chaos Computer Club). 

Auch die EU-Abgeordnete Christine Anderson (AfD) beklagt den drohenden Überwachungsstaat: „Der Vorschlag der EU-Kommission, jegliche Kommunikation über Dienste wie Whatsapp, Signal oder Threema anlaßlos zu durchleuchten, offenbart die totalitäre Geisteshaltung der EU und ihr Mißtrauen gegenüber den Bürgern, die ausnahmslos unter Generalverdacht gestellt werden. Wird der Vorschlag der EU Gesetz, ist jede vertrauliche Kommunikation über Messengerdienste augenblicklich beendet.“ Die AfD-Bundestagsabgeordnete Joana Cotar sagte der JF: „Seit Jahren kämpft die EU gegen ein freies Netz und für Zensur und Massenüberwachung. Leider immer wieder unterstützt von der deutschen Regierung. Mit der nun geplanten Chatkontrolle droht uns ein Überwachungsmonster, ein Mißbrauch von Technik in ungeheuren Ausmaßen.“

Entwurf ist nicht vereinbar mit Datenschutz in Europa

Die Frage ist, ob so eine Regelung mit dem Grundgesetz vereinbar wäre. Schließlich schützt  Artikel 10 das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis. Ausnahmen sind in der Rechtspraxis möglich, können aber nicht pauschal für Millionen unbescholtene Bürger per Gesetz erteilt werden. Der Bundesdatenschutzbeauftragte Ulrich Kelber twitterte dazu: „Der Entwurf der Kommission ist nicht vereinbar mit unseren europäischen Werten und kollidiert mit geltendem Datenschutzrecht.“ Auch aus der Branche oder aus der Justiz hagelt es Kritik. Sie reicht von der Warnung, daß einmal installierte Überwachungsmechanismen auch gegen Regierungskritiker genutzt werden können, bis hin zu der Feststellung, daß Staatsanwälte und Gerichte schon jetzt kaum hinterherkämen, alle vorliegenden Fälle abzuarbeiten. Die Vorstellung des Vorhabens wurde bereits mehrfach verschoben. Das EU-Parlament und die nationalen Regierungen können das EU-Gesetz noch verändern. Bis es Gültigkeit oder Eingang in nationale Gesetze finden wird, können noch Monate vergehen. 





Client-Side-Scanning und Hash-Abgleich

Aller Voraussicht nach dürfte eine automatisierte Suche nach Mißbrauchsmaterial folgerndermaßen eingeführt werden: Die konkrete technische Umsetzung ist den Unternehmen überlassen. Experten halten den Einsatz zweier Technologien für wahrscheinlich: den Hash-Abgleich und das Client-Side-Scanning. Auf jedem Smartphone würde ein Dienst mitlaufen, der, bevor die Nachrichten verschlüsselt werden, Bilder scannt und sie über einen Hashwert mit einer Datenbank abgleicht. Dieser Wert ist ein aus dem Bild errechneter digitaler Fingerabdruck, mit dem bekanntes Mißbrauchsmaterial erkannt werden kann. Die Implementierung dieses Systems würde es aber ermöglichen, künftig auch nach anderen Werten, Bildern oder Texten zu suchen. Der Chaos Computer Club (CCC) warnte daher, „daß sich die Rechteverwertungsindustrie für das System ebenso brennend interessieren wird wie demokratiefeindliche Regierungen“. Eine neue, eigens errichtete EU-Behörde soll die Vorgänge koordinieren. (mp)

 www.ccc.de

Foto: Eine KI scannt alle Nachrichten und schickt problematische Fälle an Auswertungsstellen weiter: Nach den Upload-Filtern startet die EU ein neues Projekt, um Einblick in Unterhaltungen in Messengern zu erhalten