© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 21/22 / 20. Mai 2022

Fühler nach Westen ausstrecken
Konrad Adenauers Engagement für eine Europäische Verteidigungsgemeinschaft im Mai 1952
Bruno Bandulet

Wer verstehen will, welchen Rahmenbedingungen und Zwängen deutsche Außenpolitik auch heute noch unterliegt und welche Chancen möglicherweise verpaßt wurden, muß im Buch der Geschichte siebzig Jahre zurückblättern, bis zum Mai 1952. Damals lagen zwei Abkommen auf dem Tisch, die einen ersten, noch kleinen Schlußstrich unter den von Deutschland verlorenen Krieg ziehen sollten: der Vertrag über die Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG) und der Deutschlandvertrag, genauer: der „Vertrag über die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Drei Mächten“. Beide waren aneinander gekoppelt. Die Verhandlungen über die Vertragswerke waren Mitte Mai 1952 so gut wie abgeschlossen, aber noch am 23. Mai stellte die mißtrauische französische Regierung Forderungen, vor allem die nach einer angloamerikanischen Garantie gegen das Wiedererstehen einer autonomen deutschen Wehrmacht. Die bekam sie dann auch.

Schumachers SPD lehnte den EVG-Vertrag kategorisch ab

Bereits 1950, im Jahr des Koreakrieges, befaßte sich sowohl Washington als auch die deutsche Bundesregierung zusammen mit Generälen der Wehrmacht mit Plänen für die Wiederbewaffnung Deutschlands. Im selben Jahr befürwortete der französische Regierungschef René Pleven eine europäische Armee. Am 3. April 1951 verlangte der US-Senat in einer Entschließung die „Nutzbarmachung der militärischen und anderweitigen Hilfsquellen Westdeutschlands“. Es war nicht so, daß Konrad Adenauer von den US-Amerikanern gedrängt werden mußte. Er sah schon bald nach Gründung der Bundesrepublik in der Aufstellung deutscher Streitkräfte den entscheidenden Hebel, um das Besatzungsregime zu beenden und die Handlungsfreiheit Deutschlands zu vergrößern. Nur durch eine enge Bindung an den Westen sei der „Wiederaufstieg Deutschlands“ zu erreichen, sagte Adenauer 1952 unter vier Augen seinem neuen Pressechef Felix von Eckardt. 

Am 22. November 1951 durfte der deutsche Bundeskanzler zum ersten Mal an einer Konferenz der drei westlichen Außenminister teilnehmen, als im Pariser Quai d’Orsay der sogenannte Dachvertrag des Deutschlandvertrages paraphiert wurde. Die Herren Schuman, Eden und Acheson hießen Adenauer herzlich willkommen. Auch über die EVG wurde ausführlich beraten. Die europäische Armee, darin waren sich alle einig, sollte eng mit der Nato verbunden sein. 

Unterzeichnet wurde der EVG-Vertrag am 27. Mai 1952 in Paris von den Außenministern Belgiens, Deutschlands, Frankreichs, der Niederlande, Italiens und Luxemburgs. Einen Tag vorher wurden im Saal des Bundesrates in Bonn die Unterschriften unter den Deutschlandvertrag gesetzt. Die Bundesrepublik erhielt die Vollmacht über ihre inneren und äußeren Angelegenheiten. Zugleich sicherten sich die drei Siegermächte eine lange Reihe von genau aufgeführten Vorbehaltsrechten, die auf Kosten der angeblich wiedererlangten deutschen Souveränität gingen. Die SPD blieb der Unterzeichnungsfeier fern. Ihr Vorsitzender Kurt Schumacher sprach von einer „plumpen Siegesfeier der alliierten, klerikalen Koalition über das deutsche Volk“.

Ideal waren die Verträge auch aus Adenauers Sicht nicht. Am EVG-Vertrag mißfiel ihm, daß zwar die deutschen Truppen vollständig integriert und unter fremdem Oberbefehl stehen würden, die französischen aber nur zu einem kleinen Teil. Außerdem hätte er es vorgezogen, gleich auch noch der Nato beizutreten, was Paris aber ablehnte. Und in Frankreich opponierten Gaullisten und Kommunisten aus unterschiedlichen Motiven gegen die EVG. Als der Vertrag am 30. August 1954 schließlich am Widerstand der französischen Nationalversammlung scheiterte, war auch der Deutschlandvertrag hinfällig.

Jedenfalls zog Adenauer aus seiner Einschätzung der weltpolitischen Realitäten ganz andere Schlußfolgerungen als Schumacher. Er wußte, daß die USA ein neutrales Deutschland außerhalb des westlichen Bündnisses nicht akzeptieren würden – daher seine negative Reaktion auf die Stalin-Note von 1952 mit ihrem Wiedervereinigungsangebot (JF 11/22). Und er fand sich wohl oder übel damit ab, daß für die Westmächte ein für Deutschland erstrebenswerter Friedensvertrag nicht in Frage kam. Das wäre aus ihrer Sicht zuviel an deutscher Souveränität gewesen. Schumachers böses Wort vom „Kanzler der Alliierten“ war insofern nicht ganz falsch. Adenauer, der Regierungschef eines besetzten Landes, arbeitete eben mit den Möglichkeiten, die er vorfand. Mit dem französischen Außenminister Robert Schuman verstand er sich bestens, mit Pierre Mendès France, der 1954 an die Regierung kam, überhaupt nicht, und Anfang der sechziger Jahre wuchs sein Mißtrauen gegenüber den USA. 

Als der EVG-Vertrag platzte, war Adenauer am Boden zerstört. „In dieser für uns sehr bedrückenden Situation“, schrieb er in seinen Memoiren, „war für mich die Gewißheit ein Trost, daß sich die amerikanische Politik in hohem Maße mit der deutschen deckte.“ Nur so war es möglich, daß die Pariser Verträge – als Ersatz für das Vertragswerk von 1952 – schon im Herbst 1954 unterschrieben werden konnten. Nach der Ratifizierung ließ Adenauer am 5. Mai 1955 vor seinem Bonner Amtssitz die deutsche Fahne hissen und erklärte die Bundesrepublik für souverän. Zehn Jahre nach der Katastrophe trat das westliche Deutschland der Nato bei, das Besatzungsregime endete, die Anwesenheit fremder Streitkräfte war fortan vertraglich geregelt.

Instrument zur Kontrolle des wiedererstarkenden Deutschland

Eine europäische Armee existiert bis heute nicht. Sie hätte die europäische Integration sicherheitspolitisch und nicht, wie dann geschehen, wirtschaftlich und bürokratisch auf den Weg gebracht. Sie hätte Europa als vermittelnde „dritte Kraft“ zwischen den beiden Großmächten etablieren können, wie es Adenauer im Mai 1950 auf einer Pressekonferenz formulierte. Wurde eine große Chance vertan? Einerseits stimmt es, daß Paris in der EVG vor allem ein Instrument zur Kontrolle des wiedererstarkenden Deutschland sah. Andererseits wäre ein solches Militärbündnis ausbaufähig gewesen. Immerhin begannen Bonn und Paris an einem Strang zu ziehen, als Félix Gaillard 1957 die Regierung übernahm. Selbst eine deutsch-französische Kooperation bei der atomaren Aufrüstung stand zum Mißfallen der Amerikaner zur Debatte. Mit dem Deutsch-Französischen Vertrag vom 22. Januar 1963 wurde ein neuer Anlauf genommen, nachdem Charles de Gaulle 1962 vor der Führungsakademie in Hamburg für eine Militärunion geworben hatte. Aus den Plänen wurde nichts, die USA blieben der Hegemon, und de Gaulles Vision eines Europa vom Atlantik bis zum Ural liegt jetzt in Trümmern.

Foto: Vertragunterzeichnung zur Europäischen Verteidigungsgemeinschaft 1952 mit Konrad Adenauer (D), Paul van Zeeland (B), Robert Schuman (F), Alcide De Gasperi (I), Joseph Bech (LUX) und Dirk Stikker (NL), v.l.n.r. 1952: Französische Nationalversammlung blockierte alles