© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 21/22 / 20. Mai 2022

Die Sponti-Truppe macht Ernst
Die terroristische „Mai-Offensive“ der RAF erschütterte 1972 die Bundesrepublik
Michael Dienstbier

Sechs Bombenanschläge in nur 13 Tagen: Im Mai 1972 sah sich die Bundesrepublik der heftigsten Terrorwelle ihrer noch jungen Geschichte ausgesetzt. Vier Menschen starben, über siebzig wurden teils schwer verletzt. Der Staat reagierte schnell, und bereits im Juni waren alle führende Köpfe der RAF – im Volksmund „Baader-Meinhof-Bande“ genannt – inhaftiert, womit der linksextreme Spuk sein endgültiges Ende gefunden zu haben schien. Die „Mai-Offensive“ der Roten Armee Fraktion markierte den endgültigen Übergang der aus der Kulturrevolution von 1968 hervorgegangenen Sponti-Truppe, die in der Bevölkerung mit ihren Aktionen zuerst durchaus Anklang fand, hin zu einer Terrororganisation. Diese Radikalisierung folgte einer inneren Logik und war bereits in den vergleichsweise harmlos erscheinenden Anfängen angelegt.

„Gewalt gegen Sachen“ wurde von Beginn an von der gesamten Studentenbewegung als legitimes Mittel zur Überwindung des angeblichen faschistischen Systems betrachtet. Andreas Baader und Gudrun Ensslin waren die ersten, die zur Tat schritten. Zusammen mit zwei Mittätern plazierten sie am 2. April 1968 in zwei Kaufhäusern in Frankfurt drei mit Zeitzündern versehene Brandbomben, die gegen Mitternacht explodierten. Es entstand ein Sachschaden von knapp 700.000 D-Mark. Die Beteiligten wurden zwei Tage später gefaßt und im anschließenden Prozeß zu drei Jahren Gefängnis verurteilt. Unter Mithilfe der bundesweit bekannten linken Journalistin Ulrike Meinhof gelang am 14. Mai 1970 die Befreiung Andreas Baaders aus der Haft. Anläßlich eines angeblichen Interviews mit Meinhof wurde Baader von der Justizvollzugsanstalt Tegel in das kaum bewachte Deutsche Zentralinstitut für soziale Fragen in West-Berlin gebracht, von wo die Flucht gelang – der Gründungsmoment der RAF.

Nach einem zweimonatigen Aufenthalt in einem Ausbildungslager der Fatah in Jordanien kehrte die Gruppe im August 1970 nach Deutschland zurück und bereitete in den kommenden Monaten durch Banküberfalle sowie den Diebstahl von Dokumentunterlagen den Aufbau einer kampffähigen Organisation vor. Seit Ende 1971 erwarb die RAF bundesweit Metallrohre sowie verschiedene zum Bau von Sprengsätzen benötigte Chemikalien wie Aluminiumpulver oder Ammoniumnitrat. Gelagert wurde das Material in Frankfurt, wo die Sprengsätze in einer Wohnung in der „Sprengstoffküche“ hergestellt wurden.

Konkreter Auslöser für die „Mai-Offensive“ war die Verminung nordvietnamesischer Häfen durch die USA Anfang Mai 1972. So erklärt sich, warum die beiden blutigsten Attacken militärischen Einrichtungen der US-Amerikaner in Deutschland galten. Erstes Angriffsziel am 11. Mai 1972 war das Offizierskasino des V. US-Korps in Frankfurt mit einem Toten und 13 Verletzten. Der letzte Anschlag der Terrorwelle am 24. Mai erfolgte auf das Europahauptquartier der US-Armee in Heidelberg. Hier kamen drei US-Soldaten ums Leben. Im Abstand von 15 Sekunden explodieren zwei in verschiedenen Autos deponierte Sprengsätze auf dem Parkplatz der Einrichtung. Augenzeugenberichte von in einem Umkreis von zwanzig Metern verteilten Körperteilen und Fleischfetzen verdeutlichen die Wucht der Explosionen. In den jeweiligen von Ulrike Meinhof formulierten Bekennerschreiben rechtfertigte die RAF die Angriffe als „Rache für das vietnamesische Volk“.

Die RAF war überzeugt, aus einer höheren Moral heraus zu handeln

Gemessen an der Zahl der Opfer bildeten die beiden Anschläge in Frankfurt und Heidelberg die Höhepunkte der „Mai-Offensive“. Den bis heute größten medialen Widerhall fand und findet allerdings der Angriff auf das Springer-Hochhaus in Hamburg am 19. Mai. Die Bild-Zeitung hat immer kritisch bis polemisch über die Studentenbewegung und deren Repräsentanten berichtet. Als am 11. April 1968 ein Einzeltäter den Studentenführer Rudi Dutschke niederschoß, gab die linksliberale Öffentlichkeit der Bild eine Mitschuld an dem Attentat. Die RAF konnte also durchaus darauf hoffen, mit einem Angriff auf dieses Ziel Sympathien zu gewinnen. Da die Bombe allerdings im Korrektursaal detonierte, wurden ausschließlich einfache Angestellte verletzt, also gerade Angehörige genau der Gruppe, die die RAF für den Kampf gegen das System mobilisieren wollte. Eine kurz vor der Explosion eingegangene telefonische Warnung wurde nicht ernst genommen, da solche Anrufe bei Springer zum Alltag gehörten. So versuchte Meinhof in ihrem Bekennerschreiben, das Leid der Opfer der Gewissenlosigkeit des Konzerns zuzuschreiben: „Für die Kapitalisten ist der Profit alles, sind die Menschen, die ihn schaffen, ein Dreck. – Wir sind zutiefst betroffen darüber, daß Arbeiter und Angestellte verletzt worden sind.“

Zwei Angriffe auf Polizeieinrichtungen in Augsburg und München am 12. Mai und eine Autobombe, die am 15. Mai die Frau eines Bundesrichters schwer verletzte, beschlossen die „Mai-Offensive“. Die Sicherheitsbehörden reagierten mit der „Aktion Wasserschlag“. BKA-Chef Horst Herold wollte „durch einen Schlag ins Wasser die Fische mal richtig in Bewegung (…) bringen“. Am 31. Mai wurden bundesweit Straßensperren eingerichtet und systematisch jedes Auto durchsucht. Ein unmittelbarer Zusammenhang zu der bereits am kommenden Tag erfolgten Festnahme von Andreas Baader, Jan-Carl Raspe und Holger Meins in Frankfurt bestand jedoch nicht, da die Garage in Frankfurt, die der RAF als Lager für ihr Sprengstoffmaterial diente, bereits vorher ins Visier der Fahnder geraten war. 

Die drei Terroristen verschanzten sich in der Garage, als die Polizei sich zu erkennen gab, und konnten nach einem Schußwechsel überwältigt werden. Die Bilder des angeschossenen Baader, der aus der Garage gezerrt wird, und des abgemagerten, nur mit Unterhose bekleideten Holger Meins gingen um die Welt. Als am 7. Juni Gudrun Ensslin in Hamburg und am 15. Juni Ulrike Meinhof in Hannover festgenommen werden konnten, schien die RAF am Ende. Ein Irrtum, wie sich herausstellen sollte. Holger Meins starb im November 1974 an den Folgen eines Hungerstreiks, in den er wegen angeblich unerträglicher Haftbedingungen getreten war. Seine Beerdigung in Hamburg, zu der über 5.000 Menschen erschienen, wurde zur Geburtsstunde der zweiten Generation der RAF, deren Ziel die Befreiung der Gefangenen aus der Haft wurde.

Die „Mai-Offensive“ verdeutlicht die logische Entwicklung einer Bewegung, die davon überzeugt ist, aus einer höheren Moral heraus zu handeln. Vor diesem Hintergrund ist es besorgniserregend, wenn führende Vertreter von „Fridays for Future“ und „Ende Gelände“ jüngst eine „grüne RAF“ vorhergesagt haben, wenn ihre Vorstellungen von Klimaschutz nicht sofort umgesetzt würden. Die heutigen Aktivisten sind hypermoralisch noch aufgeladener als ihre Vorgänger aus den Siebzigern, da es ihnen um nichts weniger als die Rettung der Welt vor der angeblich drohenden Klimaapokalypse geht. Wer in solch einem Wahn lebt, dem muß Gewalt als das moralische Gebot der Stunde erscheinen. Es bleibt zu hoffen, daß der polit-mediale Zeitgeist, der sich wie besessen einem „Kampf gegen Rechts“ verschrieben hat, nicht völlig aus den Augen verliert, wo die wahre Gefahr für den inneren Frieden in unserem Land liegt.

Foto: Festnahme des RAF-Terroristen Andreas Baader nach einem Schußwechsel mit der Polizei am 1. Juni 1972 in Frankfurt am Main: Ihre Opfer wurden von den heimtückisch deponierten Sprengsätzen regelrecht zerrissen