© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 21/22 / 20. Mai 2022

Pluralität macht noch lange nicht divers
Juliane Rebentischs Studie über die Philosophin Hannah Arendt arbeitet deren Denken als zwiespältig heraus
Felix Dirsch

Hannah Arendt erlebt bereits seit Jahrzehnten eine ungewöhnliche Rezeption insbesondere in den Bereichen Kulturwissenschaften und politische Philosophie. In letzter Zeit hat diese Aufmerksamkeit abermals zugenommen. Die gut besuchte Ausstellung „‘Das Wagnis der Öffentlichkeit’. Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert“, die durch mehrere Städte tourte, ist ein eindrucksvoller Beleg dafür. Vor zehn Jahren sorgte ein von Margarethe von Trotta inszenierter Film („Ihr Denken veränderte die Welt“) mit Barbara Sukowa in der Hauptrolle für Aufsehen.

Die an der Hochschule für Gestaltung in Offenbach am Main lehrende Philosophin Juliane Rebentisch hat sich als eine der vielen Interpretinnen der Deutung des vielschichtigen Werks der Emigrantin angenommen. Stichworte der nicht unkritischen Auseinandersetzung mit der Gelehrten jüdischer Abstammung sind Politik im Verhältnis zur Wahrheit, Sklaverei, Rassismus, Kolonialismus, Moral, Erziehung, Kapitalismus, Demokratie und etliche andere. Arendts Stellungnahmen zu Flucht und Staatenlosigkeit werden ebenfalls problematisiert.

Im ersten Kapitel versucht die Autorin, die Renaissance der streitbaren Intellektuellen zu beschreiben. Natürlich geht es nicht ohne die für Rebentischs Milieu typischen Plattitüden, die auch durch noch so häufige Wiederholungen den Charakter von Halb- und Viertelwahrheiten nicht verbergen können. Die ethnonationalistische Rechte feiere dank den Schreckensfiguren Trump, Bolsenaro oder Orban globale Erfolge: So das banale Narrativ. 

Kritisch gegenüber Gleichmacherei im Raum des Sozialen

Deren Niederlagen in letzter Zeit werden indessen nicht erwähnt. Ein früherer Präsident der USA mag es mit der Wahrheit nicht immer genau genommen haben. Daß er vielleicht gerade dafür abgestraft wurde, erfährt der Rezipient nicht. Immerhin bemerkt Rebentisch mit Recht, Arendt habe sich für Vielstimmigkeit in der Auseinandersetzung eingesetzt. In dieser Frage war sie Lessing näher als Platon und Habermas, der sich in seiner frühen Schrift „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ maßgeblich auf sie berief, obwohl er bereits in dieser Publikation einen starken Nachdruck auf Konsens, mithin auf Homogenität, legte. 

Arendts Schrifttum offenbart, jedenfalls aus Sicht ihrer progressiven Exegeten, charakteristische Widersprüche. Sie leitet grundlegende Züge ihres normativ ausgerichteten Denkens aus einer Interpretation der klassisch-griechischen Philosophie her. Zentral ist der Rekurs auf Aristoteles. Aus dieser Perspektive sind Öffentlichkeit, Freiheit und Vielfalt eng miteinander verbunden. Ein solcher Konnex dient ihr vornehmlich als Folie, vor der wesentliche Entwicklungen, die sich in der Neuzeit herauskristallisiert haben, bewertet werden können. Zu den einschneidenden Verschiebungen, die sich im neuzeitlichen Philosophieren zeigen, zählt für Arendt die Relevanz, die biologische Lebensnotwendigkeiten und Reproduktion erhalten. Gleiches gilt für die deutliche Erhöhung des Stellenwerts der Arbeit bei synchroner Abwertung des Politischen. Eine derartige Tendenz läßt sich pointiert im Werk von Karl Marx belegen. Dieser sieht im Staat lediglich ein Instrument zur Ausbeutung der Arbeiterklasse. Der modernekritische Grundzug der Gelehrten, die sich stets auch in öffentliche Kontroversen einmischte und besonders in der Eichmann-Debatte Gegenwind bekam, ist kaum zu übersehen. 

Doch nicht nur diese generelle Ausrichtung stört Vertreter der Linken. So verwundern nicht zuletzt Arendts Einwände gegen die Aufhebung der Segregation an öffentlichen Schulen, die von Bürgerrechtlern wie von verschiedenen US-Regierungen erst nach dem Brechen heftiger Widerstände durchgesetzt werden konnte. Arendt sah die Gleichmacherei im Raum des Sozialen grundsätzlich kritisch. Sie ging davon aus, daß sich die politische von der sozialen Sphäre trennen lasse. Nicht nur Rebentisch, die der Porträtierten insgesamt wohlwollend gegenübersteht, weist an dieser Stelle Arendts Argumentation zurück, ebenso ihre angeblich pauschalisierende Äußerungen über die Einstellung von Wortführern „schwarzer Organisationen“ zur Gewaltfrage. Arendts Staunen  über die Pluralität des Menschen, das wenig mit der heute omnipräsenten Forderung nach „Diversity“ zu tun hat, reicht noch nicht aus, um sie in toto als linke Denkerin einzugemeinden. Dazu ist ihr umfangreiches Werk zu sperrig.

Juliane Rebentisch: Der Streit um Pluralität. Auseinandersetzungen mit Hannah Arendt, Suhrkamp Verlag, Berlin 2022, gebunden, 287 Seiten, 28 Euro

Foto: Hannah Arendt in den USA, Porträt aus den fünfziger Jahren: Plädoyer für Vielstimmigkeit in der Auseinandersetzung