© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 21/22 / 20. Mai 2022

Die Unfähigkeit, das Offenkundige zu erkennen
Die Parabel des französischen Schriftstellers Vladimir Volkoff über den Algerienkrieg liegt erstmals in deutscher Übersetzung vor
Till Kinzel

Wenn der in Wien ansässige Karolinger Verlag eine neue Reihe mit literarischen Erzählungen „Kontergarde“ nennt, hat dies das Potential zur Irritation. Denn wer weiß schon, was das ist? Liest man aber auf dem Buchrücken, „Kontergarde“ stehe „für eine vorgeschobene Stellung, die die eigentliche Festung schützt“, so wird man hellhörig. „Unzeitgeistig und zeitlos“ sollen die Erzählungen sein, die hier gedruckt werden – und so wohl auch eine Verteidigungsstellung beziehen, die sich nicht dem Ansturm der sogenannten Cancel Culture unterwirft oder Literatur der Ödnis einer politischen Korrektheit ausliefert.

Vladimir Volkoff (1932–2005), der Autor der „Handgranate“, ist hierzulande gewiß kein vertrauter Name; mehrere Jahrzehnte ist es her, daß Romane von ihm in deutscher Übersetzung erschienen. „Die Absprache“ (1984) handelte von Desinformationskampagnen kommunistischer Einflußagenten in Frankreich, ein Lieblingsthema des mit Jean Raspail befreundeten Autors. „Das Geheimnis der schönen Solange“ (1990) spinnt eine Geschichte, in der sich die Spannungen zwischen den Totalitarismen Hitlers und Stalins mit einer Liebesromanze verbinden, und schon 1973 war „Der Verräter“ erschienen, ein tiefgründiger Roman, der sich am Beispiel eines als orthodoxer Priester arbeitenden Geheimagenten mit der Spannung eines Lebens zwischen Geheim- und Gottesdienst beschäftigte und zu einem modernen Mysterienspiel wurde.

Unterschiedlichste Motive bei den Besitzern der tödliche Waffe 

Volkoff, der in Paris geborene Sohn weißrussischer Emigranten, war als Veteran des Algerienkrieges wie als orthodoxer Christ ein wacher Zeitgenosse, der die Welt um sich herum scharf beobachtete. Seine entschiedene Antipathie galt der Flegelhaftigkeit und der Pädophilie – und Demokrat war er nur „in Maßen“, wie er in einem Essay schrieb. Das wird auch in der Erzählung deutlich, die nun in der Übersetzung von Konrad Markward Weiß zwanzig Jahre nach der Originalausgabe erscheint. 

Volkoff bedient sich mit der Handgranate eines Kniffs, der die Erzählung vorantreibt: Besagte Granate wird von einem Schüler der Militärausbildung in der Garnisonsstadt Vincennes an der Marne entwendet und wandert über mehrere Stationen nach Algerien, wo sie in die Hände von Aufständischen gelangt, bis sie bei einem Attentat auf ein Café zum Einsatz kommt. Lakonisch schildert der Erzähler die Gestalten, durch deren Hände die Waffe geht. Die sind von den unterschiedlichsten Motiven getrieben: Begierden, Streben nach Anerkennung, Haß auf Frankreichs Kolonialregime, Islamismus oder schlicht Angst und Opportunismus. Der junge Militär, der zu Beginn die Handgranate stiehlt, ist sich ebensowenig über seine Motive im klaren wie derjenige, der am Ende gezwungen wird, die Granate zu zünden. Die Spaltung der algerischen Gesellschaft zwischen den mit den Franzosen Kollaborierenden (heute würde man sagen: „Ortskräften“) und denen, die auch zum Mittel des Terrorismus greifen, um die Franzosen zu vertreiben, wird mit wenigen Strichen gekonnt evoziert. 

Und auch wenn der Name Charles de Gaulle nicht genannt wird – es ist klar, daß dessen Bereitschaft, Algerien aufzugeben, als Keim der Niederlage schon zwischen den Zeilen durchscheint: „Es war eine Kommandostimme, aber sie kommandierte nicht: sie interpretierte, plädierte, suggerierte, implizierte.“ Ob die Franzosen selbst dies erkannten, mag zweifelhaft sein, so wie sie auch sonst die Zeichen der Zeit nicht bemerkten. Aber die Angehörigen der algerischen Hilfstruppen „wußten instinktiv, daß ein Chef der in diesem Ton spricht, nicht lange Chef bleiben wird“. 

Das löst manche Phantasien über die Zukunft nach der Befreiung aus, aber die Unabhängigkeit wird, das scheint klar, nicht zu besseren Verhältnissen führen. Zukunftsphantasien macht sich auch ein französischer Offizier, der kurz vor der Heimfahrt steht und sich im Geiste ein Leben als Ehemann und Familienvater ausmalt – bis er, für den Leser überraschend, nach einem gotteslästerlichen Fluch das ultimative Opfer bringt. Volkoff hat eine eindringliche Parabel geschrieben: über die Unfähigkeit zu sehen, was sich vor den eigenen Augen abspielt, und über die Mischung aus Illusionen und Prinzipienlosigkeit, die in den Untergang führt.

Vladimir Volkoff: Die Handgranate. Karolinger Verlag, Wien 2021. gebunden, 128 Seiten, 19 Euro