© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 21/22 / 20. Mai 2022

Frisch gepreßt

Neue Endemie. Einsamkeit kann jeden treffen. Zu diesem Fazit kommen die beiden Theologen Johann Hinrich Claussen und Ulrich Lilie in ihrem Buch „Für sich sein“. Nicht erst seit der Corona-Krise ist das Thema Vereinzelung eines, das von vielen als neue „Endemie“ kategorisiert wird. Mit einem 2018 gegründeten Einsamkeitsministerium wollte die damalige britische Premierministerin Theresa May die Einsamkeit auf der Insel reduzieren. Über den Aufenthalt in den „eisigen Regionen der Isolation, in denen man zu erfrieren droht“ zirkuliert sogar der Begriff „Lepra des 21. Jahrhunderts“. Das Autorenduo warnt allerdings davor, das Phänomen als Krankheit zu kategorisieren. Vielmehr sollte über die verschiedenen Formen der Einsamkeit gesprochen werden. Denn oftmals ist diese auf den ersten Blick nicht erkennbar. Jemand, der allein ist, muß nicht zwangsläufig einsam sein, und jemand, den viele Menschen umgeben, kann im Kerker der Weltabgeschiedenheit verzweifeln. Anhand eines Selbsttests kann der Grad seiner gesellschaftlichen Abgesondertheit ermittelt werden. Der Zustand muß nicht von Dauer sein. Claussen und Lilie zeigen, wie man aus eigenem Antrieb oder mit professioneller Hilfe aus der unfreiwilligen Abgeschiedenheit herausfindet. (fox)

Johann Hinrich Claussen, Ulrich Lilie: Für sich sein. Ein Atlas der Einsamkeiten. Verlag C.H. Beck, München 2021, broschiert, 248 Seiten, 18 Euro





Walser. Faktenreich und mit einem gigantischen Anmerkungsapparat versehen begibt sich Jürgen Schwab auf Spurensuche zu Martin Walsers Verhältnis zu „Gemeinschaft und Gesellschaft“ in dessen Werk. Bei Walser, der auf besondere Art und Weise jenseits des bundesdeutschen literarischen Schmierentheaters steht, ist dies naturgemäß eine Mammutaufgabe, die Schwab jedoch vortrefflich löst. In seiner Einführung weist er auf die politischen Wandlungen des Schriftstellers von der SPD über die DKP zum Konservativen hin. Auf die Frankfurter Friedenspreisrede folgte prompt der Vorwurf des „Antisemitismus“, der nach dem Erscheinen von „Tod eines Kritikers“ (2002) eskalierte. FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher verstieg sich zu der Behauptung, das Buch stelle nichts anderes als eine „Mordphantasie“ an einem Juden dar, und schloß das Forum der FAZ für Walser. Natürlich ist Walser weder „Antisemit“ noch Nationalist, doch wandte der Pazifist und Antiimperialist sich Ende der 1970er Jahre intensiv der Deutschen Frage zu. Eine wichtige Rolle spielen in Walsers Werk Themen wie Ehe, Familie, Heimat, Volk, Nation, Staat und der europäische Kulturkreis. Schwabs Untersuchung der Dichotomie von „Gemeinschaft und Gesellschaft“ ist eine lohnende Lektüre. (W.O.)

Jürgen Schwab: Gemeinschaft und Gesellschaft bei Martin Walser. Arnshaugk Verlag, Neustadt an der Orla 2022, gebunden, 359 Seiten, 28 Euro