© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 21/22 / 20. Mai 2022

Auf ins Schlachtgetümmel
Reenactment-Saison 2022: Von der Varusschlacht über Wikingertage bis Verdun
Bernd Rademacher

Als römischer Legionär seine Caligae in Gallien durchlatschen, als Söldner Wallensteins durch Böhmen marodieren oder als Ritter im schimmernden Harnisch den Morgenstern schwingen: Für viele ist das offenbar eine attraktivere Lebensperspektive, als „im besten Deutschland aller Zeiten“ zu leben. Die (mehr oder weniger authentische) Inszenierung historischer Ereignisse durch „Reenactment“ (= Nachstellung) hat so viele Freunde wie nie. Und das Schöne: Man hat die Gewißheit, nicht von Barbaren erschlagen oder von der Pest dahingerafft zu werden, und kann abends im komfortablen Bett in der zentralgeheizten Wohnung schlafen.

Neu ist das indes nicht: Schon die Römer spielten antike Episoden in aufwändigen Umzügen nach. Auf den zahlreichen Mittelaltermärkten steht auch das Nacherleben von Handwerk und Küche zu Zeiten Kaiser Karls hoch im Kurs.

Ob Wikinger, Irokese, Zenturio oder Soldat Napoleons: Das Zeitreise-Vehikel Reenactment bringt Zivilisationsmüde in jede Epoche und Kultur. Dabei wird bei der persönlichen Ausstattung höchster Wert auf Detailtreue gelegt, moderne Kunststoffe sind in der Szene schwer verpönt. 

Hilfe erhalten die Geschichtsdarsteller durch die experimentelle Archäologie. Um herauszufinden, wie Werkzeuge, Waffen etc. früherer Kulturen funktioniert haben, rekonstruiert diese Spezialdisziplin der Altertumsforschung sie anhand von Funden oder Beschreibungen. So haben Wissenschaftler der Uni Münster ein mittelalterliches Katapult nachgebaut, um festzustellen, wie weit dessen Projektile flogen.

Teilweise kann das Hobby arg ins Geld gehen: Eine handgeschmiedete Ritterrüstung erreicht spielend den Wert eines gehobenen Mittelklasse-Pkw. Der Lebensstil der dargestellten Ära läßt sich dagegen mit viel Phantasie aufladen. Spätestens bei mittelalterlicher Zahnheilkunde hört die Liebe zur Authentizität sowieso auf.

Die Sommersaison ist Hochkonjunktur für Reenactment-Fans: Rund um den Globus treffen sich auch in diesem Jahr Freizeitkrieger, um große Konflikte der Geschichte nachzuerleben. Das „Lager derer von Greifenstein“, ein Mittelalterverein aus dem bayerischen Apolda, hat die erste Schlacht des Jahres schon geschlagen. Seit 1991 tragen Tausende Teilnehmer jährlich im April in Tschechien die „Schlacht um Libusin“ aus. Das Event zieht Zehntausende Zuschauer an. Der Ausgang ist stets derselbe: Unentschieden.

Eine Zeitreise in das Jahr 1066 zur Schlacht von Hastings 

Gemütlicher geht es noch bei der „Legio XIX“ zu, genauer bei deren III. Kohorte. Die Legionäre Roms exerzieren noch in ihrem befestigten Römerlager in Haltern (NRW) für die Schlacht mit den wilden Germanen am Pfingstsonntag bei Kalkriese, dem historischen Ort der Varusschlacht im Jahr 9. Dabei wird allerdings niemand ernsthaft verletzt.

Anders bei den Rittern der „Eisenliga“: Die kloppen sich an Pfingsten auf dem Mittelaltermarkt im hessischen Münzenberg. Beim Vollkontakt-Buhurt in der Disziplin „20 gegen 20“ wird sportlich ausgeteilt und eingesteckt. Die Begegnungen sind hart an der Grenze zur Massenschlägerei, denn anders als bei Showkämpfen wird hier keine einstudierte Choreographie aufgeführt, sondern robust gerempelt, geschlagen und getreten. Wie Eishockey mit Schwert und Kettenhemd.

Im Juli überfallen Hunderte Feierabendwikinger drei Tage lang die Ostseeinsel Wollin. Aufgrund der zahlreichen Besucher während der Festivaltage und der hohen Nachfrage nach Unterkünften empfehlen die Veranstalter, die Hotelpreise zu prüfen und Zimmer rechtzeitig zu buchen.

Ein anderes Konzept verfolgt das Spektakel „Invasion of Kent“ im September in Südengland: „Erleben Sie die Invasion von Kent mit realistischen Kämpfen zwischen französischen und englischen Truppen, wie sie verlaufen wären, wenn Napoleon Britannien erobert hätte, wie er es geplant hatte.“

Selbst die Schrecken des Ersten Weltkrieges taugen zum Kostümfest: 2020 marschierten zuletzt Imitatoren der kaiserlichen und alliierten Truppen in Verdun auf. Allerdings nur zu friedlichen Demonstrationen wie Militärmarschkonzerten.

Vom 18. bis 20. August wird die Landung der Alliierten in der Normandie am „D-Day“ 1944 an den Eriesee in Ohio verlegt. Die Veranstalter bitten die Zuschauer, auf Sonnenschirme zu verzichten, um anderen nicht die Sicht auf die Kämpfe zu nehmen. Rund 1.500 amerikanische und kanadische Darsteller werden – je nach Lager – versuchen, den Strand einzunehmen oder zu verteidigen. Ein Teilnehmer lacht: „Die meisten wollen die Deutschen sein – wegen der coolen Uniformen.“

Oder machen Sie dann doch lieber am 5./6. Oktober in East Sussex/ South East eine Zeitreise in das Jahr 1066. Am 14. Oktober wurde die Schlacht von Hastings zwischen König Harold Godwinson und dem Herzog der Normandie (Wilhelm der Eroberer) geschlagen. 

An dem Ort, wo König Harold und Herzog William 1066 kämpften, werden über 500 Darsteller die Dramatik und Intensität dieses legendären Konflikts nachstellen. „Begeben Sie sich in die Lager der Armeen auf beiden Seiten des historischen Schlachtfelds und kommen Sie den sächsischen und normannischen Soldaten ganz nah“, werben die Veranstalter. 

Foto: Wikingertage im Archaeologischen Freilichtmuseum am Ufer der Swine nahe Wollin: Rechtzeitig eine Unterkunft suchen