© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 22/22 / 27. Mai 2022

Alternativen schaffen
Was lehrt uns die Abhängigkeit von russischem Öl und Gas?
Ulrich van Suntum

Früher brachte der Besuch meist Blumen oder Wein mit, heute ist es mitunter eine Flasche Olivenöl: Nach gut 70 Jahren Überflußgesellschaft ist plötzlich das Gespenst des Gütermangels wieder zurück. Erst lag es an Corona, jetzt ist vor allem der Ukraine-Krieg dafür verantwortlich. Internationale Lieferketten sind unterbrochen, den Unternehmen fehlen Rohstoffe und Vorprodukte. 

Dazu kommt in vielen Bereichen auch noch Arbeitskräftemangel. So fehlen zum Beispiel ukrainische Lastwagenfahrer, die jetzt an der Front statt auf den Autobahnen Dienst tun. All dies treibt nicht nur die ohnehin steigenden Güterpreise, sondern sorgt tatsächlich für teilweise ausverkaufte Produkte und leere Regale.

Für viele zeigen sich darin die Nachteile einer Globalisierung, die immer weiter zugenommen hat. Was früher aus heimischer Produktion gewonnen wurde, wird heute über Tausende von Kilometern aus fernen Ländern importiert. Das sorge nicht nur für unnötige Transportkosten, sondern führe eben auch zu entsprechenden Abhängigkeiten. Notwendig sei daher eine Rückbesinnung auf regionale Produkte und nachhaltigere Produktion. Und natürlich wird in den Problemen an den Rohstoffmärkten auch eine Bestätigung der Energiewende gesehen. Denn offenbar kann Putin uns zwar den Gashahn zudrehen, nicht aber Sonne und Wind in Deutschland abschalten. Die jüngsten Wahlerfolge der Grünen dürften durchaus mit solchen, scheinbar logischen Sichtweisen zu tun haben.

Bei näherer Betrachtung erweisen sie sich allerdings als viel zu oberflächlich. So benötigen zum Beispiel Photovoltaik- und Windkraftanlagen zwar keinen fossilen Treibstoff, dafür aber Unmengen von anderen Rohstoffen. Das sind neben den Seltenen Erden und Indium auch Metalle, die teils aus unsicheren Ländern importiert werden müssen. So benötigen die Erneuerbaren Energien etwa die 90fache Menge an Aluminium und die 50fache Menge an Eisen und Kupfer, verglichen mit herkömmlichen Kraftwerken gleicher Leistung. 

Zudem verstärkt die Energiewende auch unsere Abhängigkeit von Gasimporten. Denn da Sonne und Wind oft nicht genügend oder gar nicht zur Verfügung stehen, müssen entsprechende Reservekapazitäten anderer Energieträger einspringen. Kohle und Kernkraft sind jedoch bei uns geächtet, so daß dafür letztlich nur das Gas übrigbleibt.  

Für Deutschland als rohstoffarmes und zugleich exportorientiertes Land ist Autonomie ohnehin keine realistische Option. Regionale Produktion klingt schön, ist aber ebenfalls auf viele Vorprodukte angewiesen und vor allem teuer. Es hat ja seinen Grund, warum viele Produkte trotz der langen Transportwege aus fernen Ländern bezogen werden. Internationale Arbeitsteilung ist auch nichts grundsätzlich Schlechtes, im Gegenteil. Sie erhöht nicht nur unseren eigenen Wohlstand, sondern sichert gerade auch vielen Menschen in ärmeren Ländern eine Einkommensquelle und damit das Überleben. Das sollten gerade diejenigen nicht ausblenden, die sonst immer auf die Rechte und das Wohl der sogenannten Dritte-Welt-Länder pochen.

Allerdings darf man es mit der Abhängigkeit von einzelnen Handelspartnern nicht zu weit treiben. Das gilt für einzelne Unternehmen genauso wie für ganze Volkswirtschaften. Wer sagt uns denn, daß nicht morgen schon ein Großkonflikt mit China droht, etwa wegen der Taiwan-Frage? 

China ist inzwischen nicht nur unser größter Handelspartner, sondern auch Hauptlieferant von Rohstoffen, die aus der modernen Industrieproduktion nicht mehr wegzudenken sind. So werden etwa 60 Prozent der Seltenen Erden dort produziert. Einige von ihnen, etwa das für die Produktion von Handys und Elektroautos unerläßliche Neodym, kommen gar zu 90 Prozent aus dem kommunistischen Riesenreich. Die Elektrifizierung macht unsere Mobilität daher keineswegs sicherer vor weltpolitischen Konflikten und der mißbräuchlichen Ausnutzung von Monopolen, eher im Gegenteil. 

Was also ist zu tun? Das Zauberwort kann hier nur Diversifikation heißen. Wenn man etwas dringend benötigt, aber selbst nicht fördern oder herstellen kann, sollte man zumindest nicht alle Eier in einen Korb legen. Das gilt sowohl für den Bezug einzelner Produkte als auch für die Frage, auf welcher Rohstoffbasis wir unsere künftige Energieversorgung und Produktion überhaupt aufbauen wollen. Je mehr Optionen man dabei aus politischen – man könnte auch sagen: ideologischen – Gründen ausschließt, desto anfälliger wird die Versorgungslage im Krisenfall. 

Man muß ja nicht gleich die alten Steinkohleschächte wieder öffnen – diese waren schon unrentabel, lange bevor das Wort Energiewende überhaupt erfunden wurde. Aber Braunkohle, Kernkraft und auch heimische Gasproduktion sind ernsthafte Alternativen zu Putins Gas. Auch das Aus für den Verbrennungsmotor sollte man dringend noch einmal überdenken. 

Die sogenannten Seltenen Erden sind übrigens gar nicht so selten, sondern kommen in vielen Ländern vor. Man hat nur bisher die Kosten und Mühen gescheut, diese Ressourcen stärker nutzbar zu machen. China stand ja als billiger und scheinbar sicherer Lieferant gerne zur Verfügung. Inzwischen ändert sich diese Einschätzung aber bereits: Gemäß einer noch vor dem Ukraine-Krieg durchgeführten Umfrage des Münchener ifo-Instituts möchte beinahe jede zweite Industriefirma in Deutschland ihre Abhängigkeit von China künftig verringern. 

Es geht aber längst nicht mehr nur um Energie und Leichtmetalle, sondern auch um so elementare Dinge wie das tägliche Brot. Der Agrarprotektionismus der EU ist zu Recht viel gescholten worden. Zumindest erweist sich aber jetzt, daß die Aufrechterhaltung einer eigenen Nahrungsmittel-Grundversorgung im Kern richtig ist. Auch hier gilt es jedoch, ideologische Barrieren zu schleifen. Vielleicht ist ja der Anbau von Weizen und Gerste am Ende doch wichtiger als die Produktion von Biosprit.






Prof. Dr. Ulrich van Suntum ist Volkswirt und lehrte von 1995 bis 2020 an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster.